Walkueren
seiner Kollegen zunehmend prüfendere, neugierigere Ausdrücke annahmen. Leute, die ihm nie übermäßig viel Beachtung geschenkt hatten, warfen ihm Blicke zu oder musterten ihn, wenn sie glaubten, er merke es nicht.
Ásdís meinte, es sei ausgeschlossen, dass sich ihr Verhältnis herumgesprochen hätte. Sie waren immer vorsichtig gewesen, außer am Anfang, als sie bei der Arbeit jede Gelegenheit genutzt hatten, um zusammen zu sein. Aber schon bald hatten sie sich ja nur noch außerhalb der Arbeit getroffen. Außer das eine Mal in der Dusche bei der Nachtschicht.
Das hatte vielleicht ausgereicht. Irgendjemand konnte natürlich etwas gesehen haben. Irgendwie war Guðrún jedenfalls dahintergekommen. Ásdís versicherte hoch und heilig, sie hätte niemandem von ihrem Abenteuer erzählt. Niemandem. Noch nicht einmal unter vier Augen. Aber konnte man ihr vertrauen?
Natürlich nicht.
Bergþór war nie auf den Gedanken gekommen, dass er seine Karriere, seine Familie und seine Ehe aufs Spiel setzen könnte. Die Arbeit hatte Vorrang, und eigentlich war er ganz automatisch davon ausgegangen, dass alles, was am Arbeitsplatz geschah, zum Job gehörte, in die diskrete Welt der Medizin. Er lebte in zwei Welten. Job und Familie. Der Job bedeutete Wachzeit: Konzentration, Organisation. Viel Trubel. Die Familie bedeutete Verschnaufpause und Erholung. Ruhe und Frieden.
Allerdings war die Familie nie der Zufluchtsort gewesen, den er sich gewünscht hatte, außer vielleicht im ersten Jahr, als er in England sein Fachstudium absolvierte. Damals war Guðrún zu Hause geblieben und hatte sich um das Nest gekümmert. Dann wollte sie ihr Leben mehr ausfüllen und sich weiterbilden – als sei Laborantin kein guter Beruf für eine Arztgattin. Am Anfang war die Rede davon, nur ein paar Vorlesungen zu besuchen, aber bevor er sich’s versah, war aus einigen Vorlesungen ein komplettes Studium geworden – sie nannte es Spurensicherung oder Forensik: Blutspuren und Fingerabdrücke und andere von Tätern hinterlassene Spuren.
Vielleicht wusste sie ja auch gar nichts. Vielleicht hatte sie nur spekuliert wegen irgendwelcher Spuren: Lippenstift am Kragen. Ein langes Haar auf dem Jackenärmel. Obwohl er vorsichtig gewesen war. Hatte immer hinterher geduscht. Vielleicht hatte sie einen Knutschfleck gesehen? Oder eine Kratzspur? Ásdís war so hemmungslos. Vielleicht hatte Guðrún auch sein Handy kontrolliert. Die SMS-Nachrichten? Überprüft, welche Nummern er gewählt hatte? Kontrolliert, wer ihn angerufen hatte? Sie musste ihm nachspioniert haben. Sich in die Arbeitswelt eingemischt haben, die die Familie nichts anging, die Arbeitswelt, über die sie abends nicht mit ihm reden wollte. Sie interessierte sich nicht für die Machtkämpfe zwischen den Ärzten und der Krankenhausleitung. Tat so, als gingen sie seine Träume von der Chefarztstelle nichts an. Sie fragte ihn nie nach seinem Krankenhausalltag. Sie interessierte sich nur für ihre eigene Arbeit, und trotzdem hatte sie ihm nachspioniert.
Auch das Heim war ihr immer unwichtiger geworden. Sie sprach nicht mehr darüber, dass sie die Möbel ausbessern, die Einrichtung verändern, neue Gardinen kaufen müssten. Sie kümmerte sich um den Einkauf und das Kochen. Den Rest machten die beiden Mädchen, die nachmittags abwechselnd kamen und sich ums Putzen, die Wäsche, den Haushalt kümmerten, obwohl sie noch nicht mal richtig Hemden bügeln konnten.
Guðrún fragte ihn nie um Rat. Sie hatte sogar auf eigene Faust den Zweitwagen verkauft und sich ein neues Auto angeschafft, ohne mit ihm darüber zu sprechen. Hatte den kleinen Renault verkauft und sich stattdessen einen Suzuki-Jeep zugelegt. Den europäischen Wagen verscherbelt und stattdessen eine Reisschüssel gekauft. Diese japanischen Autos hatten doch keinen Stil, außer vielleicht ein Landcruiser. Das war doch nichts für die Gattin eines künftigen Chefarztes! Sie behauptete, ein Auto mit Vierradantrieb zu brauchen, um mobil zu sein. Hinten im Jeep könne sie alles transportieren, was sie für Tatortuntersuchungen benötigte.
Wenn man versuchte, die Sache objektiv zu betrachten, dann war es eigentlich ihre Schuld, dass er überhaupt in diese Affäre im Krankenhaus hineingestolpert war. Vielleicht war es aber auch falsch, ihr die Schuld zu geben; es war sowieso Unsinn, von Schuld oder Unschuld zu sprechen, als handele es sich um ein Verbrechen. Es war kein Vergehen, sondern ein rein menschliches Verhalten. Ursache und Wirkung. Die
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