Wall Street Blues
zusammen und hob die Beine langsam an zu einem Schulterstand.
Smith war als Pflegekind in armen Verhältnissen am Südrand von Philadelphia aufgewachsen. Sie hatte im Geld die Antwort auf alles gesehen. Wetzon hatte sich das noch nie klargemacht.
Rick. Sie mochte Rick. Er war lieb und jungenhaft, trotz seiner vorzeitig ergrauten Haare. Jungenhaft. Das treffende Wort bei Rick war jungenhaft. Danke, Laura LeeDay. Sogar sein Name war jungenhaft. Jungenhaft als Gegensatz zu männlich. Ein Zwischenspiel im Interim. Okay. Oder war sie vielleicht so ausgehungert nach einem Liebhaber, nach einer Beziehung? Hatte die Einsamkeit des selbständigen Lebens in New York City sie endlich eingeholt?
Ihre Türklingel läutete. Türklingel? Wer war denn das schon wieder, und wie war er am Portier vorbeigekommen, ohne angemeldet zu werden? Angst überfiel sie. Sie veränderte vorsichtig die Handstellung, ging langsam aus dem Schulterstand in die Brücke und ließ sich dann Wirbel um Wirbel auf die Matte sinken.
Die Türklingel läutete noch einmal. Sie ging auf Zehenspitzen an die Tür, schob den Spion so leise wie möglich auf, was nicht leise genug war, und entdeckte, daß sie Silvestri ansah, der sie ansah.
»Verdammt«, sagte sie, weil sie an ihren verschwitzten Zustand und die Trainingskleidung dachte. Sie schloß beide Schlösser auf und öffnete die Tür.
»Sie hätten anrufen können«, sagte sie gereizt.
»Ich dachte, Sie hätten mich angerufen.« Silvestri sah sie abschätzend an. Er schien ein wenig unschlüssig, sprachlos. Sie wußte, daß ihr Gesicht von der Anstrengung gerötet war und daß sich auf ihrer Trainingskleidung Schweißflecken abzeichneten. Ihr nasses Haar ringelte sich auf der Stirn und an den Seiten.
Wetzon strich verlegen die feuchten Kringel aus den Augen. »Dann kommen Sie schon rein, Silvestri. Sie haben mich mitten im Training überrascht. Wo war der Portier?«
Er roch nach Kaffee und Zigaretten. Und nach dem Aftershave ihres Vaters. Nach Wald. Der Geruch eines arbeitenden Mannes. Rick roch nach Antiseptika.
»Ich habe niemand gesehen«, sagte er.
»Schöne Verhältnisse.«
Sie ging ihm ins Wohnzimmer voraus, in dem die Zeitungen noch ausgebreitet waren, wo sie und Smith sie liegengelassen hatten. »Machen Sie es sich bequem«, sagte sie.
Die Klänge von Schwanensee umschwebten sie. Sie standen einen Moment da und sahen sich an. Dann setzte Silvestri sich aufs Sofa und machte kein Hehl daraus, daß er das Zimmer einer gründlichen Besichtigung unterzog.
Wetzon ließ sich auf den Boden fallen, die Arme vorgestreckt, die Hände um die Knöchel, die Ellbogen auf dem Boden, die Beine ausgestreckt, die Muskeln lockernd. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, ohne es zu meinen, nur um das Schweigen zu brechen. »Ich möchte nicht verkrampfen.« Jetzt musterte er sie ganz offen, ohne etwas zu sagen. »Ich war früher Tänzerin«, sagte sie, befangen, weil sie wußte, daß sie es ihm schon früher gesagt hatte.
»Ich weiß.« Er machte es sich auf dem Sofa bequem und wartete.
»Ich habe Sie angerufen...« begann sie.
»Sie haben mich angerufen«, sagte er fast gleichzeitig.
»Hat Jake Donahue Mildred und Barry umgebracht?«
»Was haben Sie gestern nachmittag in Mildred Gleasons Büro gemacht?«
Sie starrte ihn an. »Sie hat mich angerufen und gebeten, sie aufzusuchen«, sagte sie vorsichtig.
»Sie waren also bei Stark und Travers und Gleason, kurz bevor sie starben.«
Sein Ton gefiel ihr nicht. »Moment mal, Silvestri«, sagte sie erschrocken. »Sollte ich mir einen Anwalt besorgen? Stehe ich unter Verdacht?«
Sie sahen sich unverwandt in die Augen.
»Nee«, sagte er schließlich. »Möglich wäre es. Aber das Motiv fehlt, und es gab zu viele Zeugen, wo Sie waren.«
»Herrgott, Silvestri, was machen Sie mit mir?« Sie setzte sich auf und zog fröstelnd die Knie an. »Ich habe Sie angerufen, weil Smith meint, jemand versuche, mich umzubringen...«
»Schießen Sie los.« Silvestri zog einen Block und Kuli aus seiner Innentasche, so daß sie kurz seine Pistole und Schulterhalfter sah. Er ließ sich nichts mehr von der Schußwunde anmerken.
»Der Obdachlose, der gestern abend ermordet wurde — eine Straße weiter...«
»Ja?«
»Sie wissen Bescheid?«
»Ich habe den Bericht gelesen. Was hat das mit Ihnen zu tun?«
»Nichts, glaube ich. Aber ich kannte ihn. Sein Name war Sugar Joe. Wenigstens nannten wir ihn so. Ich habe ihm fast ein Jahr lang regelmäßig Kaffee hingestellt. Er schlief in
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