Wall Street Blues
es spürte. Er ließ ihren Arm fallen, und sie traten aus dem Aufzug und standen in der Halle. Der Augenblick war vorbei. Da war eine Anziehung zwischen ihnen gewesen, einen kurzen Augenblick lang, und sie hatten es beide empfunden. Und während Silvestri davon anscheinend völlig überrascht worden war, rührte Wet-20ns Schwäche für ihn von der ersten Begegnung her. Doch seine Reaktion kam für sie unerwartet.
Sie räusperte sich, und ihre Stimme überschlug sich, als sie begann. »Ich sah Buffie — Ann Buffolino — , als ich Mildred Gleasons Haus betrat. Sie wollte das Haus verlassen und versuchte, mir auszuweichen.«
Silvestri wartete. Das Pokergesicht verriet nichts. Die Augen waren wieder schiefergrau. »War Gleasons Assistentin da, als Sie Gleason besuchten?«
»Ja. Sie ging ein paar Minuten vor mir weg.«
»Aus dem Zimmer oder aus dem Haus?«
»Aus dem Zimmer bestimmt. Aus dem Haus? Weiß ich nicht. Ist das wichtig?«
»Möglicherweise.« Er wollte sich nicht festlegen, aber Wet-zon spürte ein verstärktes Interesse.
Sie dachte angestrengt nach. Sie erinnerte sich an das Geräusch einer Toilettenspülung. »Führt die andere Tür in Mild-reds Büro in ein Bad, und wenn ja, kommt man von dort in ein anderes Zimmer?«
»Zweimal ja. In Miss Bancrofts Büro.«
Wetzon nickte. »Hm, falls sie einen schwarzen Ledertrenchcoat besitzt, hat sie wahrscheinlich das Gebäude verlassen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil einer im Schrank hing, als ich hinkam, und nicht mehr da war, als ich ging. Hilft das?«
»Möglicherweise«, sagte er noch einmal.
»Okay, ich verstehe.«
Sie sah ihm nach. Er sah wie ein Collegeprofessor aus, ein wenig zerknittert, aber solide, mit braunen Wildlederflicken auf den Rockärmeln. Aber er war ein zerknitterter, solider Polizeisergeant mit einer zerfetzten grauen Jacke unter dem Arm, und er bewegte sich schnell. Sie hätte gern gewußt, was seine Frage nach Roberta Bancroft bedeutete.
Es wurde immer merkwürdiger.
Sie schloß ihren Briefkasten auf und sortierte die Post aus Die Lancôme-und Estee-Lauder-Sonderangebote von Saks und Bonvit’s und den Katalog von L. L. Bean warf sie gleich weg. Die Briefe und den Williams-Sonoma -Katalog wickelte sie in Business Week und stieg zu den Zwillingen vom vierten Stock und ihrem unruhigen Golden Retriever in den Aufzug. Portia, die Hündin, tanzte und hechelte und benahm sich wie ein Welpe nach einem Spaziergang. Die Zwillinge hatten ihre Mühe, sie festzuhalten. Als der Aufzug im vierten Stock hielt, sprang Portia hoch und gab Wetzon einen schmatzenden, feuchten Kuß und schoß hinaus.
»Vielen Dank, Portia«, sagte sie zu dem leeren Aufzug, während sie sich das Gesicht abwischte. Sie konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
Irgend etwas mit dem Schlüssel machte ihr zu schaffen. Ein Krankenhausschrank. Es war alles so verwirrend. Sie ließ die Post auf die Theke in der Küche fallen, holte einen Granny-Smith-Apfel aus dem Kühlschrank und schnitt ihn in Scheiben. Ihr herrlicher Nachmittag war dahin. Sie sah die Briefe durch und zog etwas aus einem quadratischen weißen Umschlag heraus, das nach einer Einladung aussah. Der Apfel schmeckte herb und gut.
Es war eine Einladung zu einer Wall-Street-Night im Caravanserie am Montag abend um sechs Uhr. Schon wieder Barry Stark. Barry hatte ihr von diesen Abenden erzählt; er mußte sie auf die Adressenliste gesetzt haben. Sie steckte die Einladung wieder in den Umschlag. Es war komisch mit Barry. Er blieb einfach nicht tot. Er kam ständig in der einen oder anderen Form zurück. Immer wieder.
Sie duschte rasch und zog einen gesteppten Jeansrock mit einem roten seidenen Arbeitshemd an. Eine moderne Ironie — ein teures seidenes Arbeitshemd. Sie betupfte die Augenlider mit grauem Lidschatten, verwendete ganz wenig Maskara für die Wimpern, dann schüttelte sie den Pferdeschwanz aus und ließ ihr Haar um das Gesicht fallen. Rick hatte gesagt, sie solle es offen tragen, und das hatte sie sei Jahren nicht mehr getan. Ihr feines und leicht lockiges Haar hing ein gutes Stück über die Schulterblätter. Zu lang. Ihr Gesicht wirkte überraschend weich und verletzlich im Spiegel. Sie wandte sich ab. Das war nicht gut. Sie konnte nicht ausgehen und so schutzlos aussehen, gleich, was Rick mochte. Sie würde einen Kompromiß schließen. Sie bürstete das Haar, teilte es in der Mitte, zog es nach einer Seite und band es unter dem linken Ohrläppchen. Schön, nun sah sie also ein wenig wie
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