Wall Street Blues
Emily Dickinson aus. Und wenn schon. Es war Viertel vor fünf, und sie mußte sich beeilen. Etwas Ombre Rose hinter die Ohrläppchen und auf die Handgelenke und finito.
Sie brachte das Schlafzimmer in Ordnung, räumte Sachen weg, schloß die Jalousien vor dem schwindenden Licht. Auf der Kommode sah sie das kleine weiße Plastikpäckchen mit der blauen Aufschrift YORK HOSPITAL, das der Arzt in der Notaufnahme ihr gegeben hatte. Sie leerte den Inhalt auf die Handfläche. Vier aspirinähnliche Tabletten mit Kodein.
Sie ließ die Tabletten in die Toilettenschüssel fallen, spülte und besah noch einmal das kleine Päckchen in ihrer Hand. Sie erschrak. Die Plastikbeutel mit den Pillen und Drogen, die sie und Smith in Barrys Diplomatenkoffer gefunden hatten, waren viel größer als dieses, aber sie waren identisch. Auch auf den anderen hatte YORK HOSPITAL gestanden. Sie hatte plötzlich Angst und bekam eine Gänsehaut. Stand der Arzneischrank, den der Schlüssel öffnete, im York Hospital?
Okay, Schluß damit, befahl sie sich streng. Die Zeit ist abgelaufen. Keine Schlußfolgerungen mehr. Sie wollte das Päckchen wegwerfen, dann änderte sie ihre Meinung und legte es in ihr Arzneischränkchen zu den verschiedenfarbigen alternden Fläschchen mit Nagellack, die sie kaufte und nie benutzte, weil sie lieber bei dem konservativen durchsichtigen blieb. Im Eßzimmer rollte sie die Übungsmatte zusammen, nahm das Badetuch von der Barre, wo sie es hingehängt hatte, und steckte es in die Waschmaschine in der Küche. Sie öffnete rasch die restlichen Briefe und warf alles weg bis auf eine Rechnung von Con Ed, die wahnsinnig hoch war für jemanden, der allein lebte und nicht viel kochte, und die Einladung zum Kontakteknüpfen im Caravanserie. Sie würde am Montag darüber nachdenken. Vielleicht kämen Makler hin... Sie zog die Einladung wieder aus dem Umschlag. Sechs Dollar, eine Geschäftskarte und diese Einladung... Sie steckte sie in den Umschlag zurück, und zum erstenmal fiel ihr das Symbol auf der Rückseite auf: der Umriß einer Palme. Sie hatte es schon einmal irgendwo gesehen. Jedenfalls kam es ihr bekannt vor. Sie hatte periodisch wiederkehrende Dejä-vu-Erlebnisse. Sie schüttelte nachdenklich den Kopf, als sie Business Week und den Sono wa-Katalog in den Korb in der Diele legte und die Einladung auf den Schreibtisch im Wohnzimmer fallen ließ. Sie hob die Zeitungen auf und stapelte sie säuberlich auf dem Boden in der Diele.
Sie suchte ihren Burberry im Flurschrank, konnte ihn nicht finden und machte einen schnellen Rundgang durch die Wohnung. Dann sah sie sich wie in einer Rückblende den Mantel vergangene Nacht zusammenrollen und Sugar Joe unter den Kopf schieben, nur daß sie nicht gewußt hatte, daß es Sugar Joe war. Das viele lange weiße Haar. Sie war froh, daß sie es getan hatte. Sie zog ihre Jeansjacke an und öffnete die Flurtür, zögerte, ging zurück und schaltete den Anrufbeantworter ein.
Du meine Güte, wie lange sie brauchte, um aus der Wohnung zu kommen. Als ob sie eigentlich gar nicht weggehen wollte. Aber warum sollte sie wohl nicht wollen? Sie mochte Rick. Er war nett. Er mochte sie. Sie hatte Lust auf Weißes Gift. Es war ihr Lieblingsfilm von Hitchcock. Diesmal schloß sie die Tür fest hinter sich und drehte den Schlüssel im Schloß.
Daran war nicht zu rütteln, irgend etwas beunruhigte sie. Eine Menge beunruhigte sie. Auf unbegreifliche Weise war sie in drei, möglicherweise vier Mordfälle verwickelt. Ihre Partnerin, Xenia Smith, benahm sich eigenartig. Ihr Rechtsanwalt, Leon Ostrow, hatte etwas Unmoralisches getan. Sie drückte auf Jen Aufzugknopf. Und Leon und Xenia waren sich plötzlich so nahegekommen, oder waren sie es immer gewesen? Sie glaubte es nicht. Und als Krönung hatte sie auch noch sonderbare Träume.
Und was war mit Silvestri los, dem ersten Mann seit langem, zu dem sie sich hingezogen fühlte? Smith schien ihn umgarnt zu haben. Und Smith wollte ihn nicht einmal.
Und sie, Wetzon, war auf dem Weg, einen anderen Mann zu treffen — einen gutaussehenden Arzt, der sie offenbar mochte, der ein guter Liebhaber war. Warum also flog sie nicht zum Regency, begeistert, ihn wiederzusehen?
W etzon ging in Richtung Broadway und machte einen Bogen um die Stelle auf der Amsterdam Avenue, wo Sugar Joe gestorben war — vielleicht an ihrer Stelle — , und kam an der Bushaltestelle vorbei. Keine Spur von dem Metallkarren mit seinen Habseligkeiten oder von seiner Decke. Entweder hatte die
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