Wall Street Blues
Leiche?«
»Ich fand ihn«, sagte sie mit den Lippen, aber ihre Stimme funktionierte nicht. Sie brachte keinen Ton heraus. Sie begann zu frösteln.
Silvestri legte seine massige Hand auf ihre und sagte in einem ruhigen, bestimmenden Ton: »Ist schon gut. Atmen Sie tief durch.« Er hatte etwas Beruhigendes an sich, und Wetzon begann wieder zu atmen, ganz tief, wie eine Tänzerin atmet. Das Zittern legte sich allmählich. Er hatte feine dunkle Härchen auf seinem Handrücken.
Silvestri zog seine Hand weg und zog etwas aus der Innentasche seines Jacketts. Es war eine schwarze lederne Brieftasche. Er nahm ein paar Ausweiskarten aus der Brieftasche, und sie sah, daß sie Barry gehörte, denn es waren seine Zulassung als Börsenmakler, ein Führerschein und einige Kreditkarten — Visa, MasterCard, American Express und andere. Silvestri legte sie vor sich auf den Tisch und schien sie eingehend zu betrachten.
»Er rief mich heute nachmittag an«, erklärte Wetzon. »Es sei dringend, meinte er, und er müsse mich sehen. Er hatte irgendein Problem, glaube ich, im Büro oder...« Ihre Stimme verlor sich, als sie Silvestri ansah.
Er erwiderte ihren Blick, und die Überraschung stand ihm im Gesicht. »Damit ich das richtig verstehe«, sagte er langsam. »Sie kannten ihn? Sie kannten Barry Stark?«
»Ja«, antwortete sie. »Sicher. Ich dachte, daß wüßten Sie. Ich kannte Barry seit mindestens drei Jahren.«
Silvestri lehnte sich zurück. »Okay, Miss Leslie Wetzon.« Der Ton seiner Stimme veränderte sich merklich; sein Verhalten war nicht mehr ganz so freundlich. »Erzählen Sie mir von Barry Stark.«
W etzons Augen brannten, als wäre ihre Wimperntusche verlaufen. Sie blinzelte schnell. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, den Kopf in die Hände gestützt. »Das ist so ein Schlamassel. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Lassen Sie sich nur Zeit«, sagte Silvestri geduldig. Er zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche und sah sie erwartungsvoll an. »Wer war Barry Stark?«
Wer war Barry Stark, gute Frage, dachte sie, indem sie die Augen schloß. War, Vergangenheit. Barry Stark war vorbei. Kein Barry Stark mehr. Mit Mühe unterdrückte sie ein irres Kichern, das in ihrer Kehle aufstieg. Sie schlug die Augen auf und starrte verlegen und verwirrt auf den unbewegten Detective.
»Nein, das genügt nicht«, begann sie. »Barry Stark... Barry Stark war Börsenmakler. Bei Jacob Donahue und Co.«
»Jacob Donahue und Co.?« Silvestri schrieb es in sein Notizbuch. »Nie gehört.«
»Es ist eine kleine Maklerfirma, unten am Hanover Square.«
»Sie meinen, wie Merrill Lynch, nur kleiner?«
»Nein, ganz anders.« Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß sich ihr Haar in dem ordentlichen Knoten bedenklich lockerte. »Die wichtigen Maklerfirmen, die Kabelhäuser wie Paine Webber, Dean Witter, Merrill Lynch, Shearson und Pru-Bache, sind alles Firmen mit dem vollen Angebot und Zweigstellen überall im Land, in der Welt.«
»Kabelhäuser?«
Wetzon steckte ihr Haar wieder fest. »Wenn eine Firma in der guten alten Zeit viele Zweigstellen hatte, wurde das Geschäft von den Außenstellen über die Zentrale mittels privat gemieteter Telefone oder Telegrafenleitungen geführt. Daher der Name >Kabelhaus<. Heute trifft das nicht mehr zu, weil alle auf Computer umgestellt haben, und die Bezeichnung steht inzwischen einfach für eine große Firma.« Sie befühlte ihre Frisur, zufrieden, sie so gut hinbekommen zu haben, wie es unter den Umständen möglich war.
Silvestri nickte. »Fahren Sie fort«, sagte er. »Erzählen Sie mir von...« Er warf einen Blick auf sein Notizbuch. »Jacob Do-nahue und Co.«
»Es ist eine kleine Firma für Neuemissionen mit ungefähr fünfundsiebzig Maklern und keinen Zweigstellen anderswo. Jake Donahue möchte gern alles in der Hand haben. Ich glaube, er könnte nicht mit einem Netz von Filialen umgehen. Es würde seine Befehlsgewalt verwässern.«
»Sie kennen ihn?«
»Nicht persönlich. Aber so, wie jeder Jake kennt. Er ist interessant. Er wird von Zeitschriften wie Manhattan , Inc. und Forbes interviewt, und er wird ständig zitiert.« Sie runzelte die Stirn. »Vermutlich würde ich ihn nicht erkennen, wenn ich ihn sähe. Er ist jedenfalls massig, von der Figur her. Irgendwie fleischig.«
Silvestris Blick folgte ihren Händen, und sie merkte plötzlich, daß sie gestikulierte und Jake Donahues mutmaßliche Statur mit Handbewegungen beschrieb. Sie machte das immer ganz unbewußt. Ärgerlich
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