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Wall Street Blues

Wall Street Blues

Titel: Wall Street Blues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Meyers
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verpaßt habe.« Sie bückte sich, um den heißen Kaffee neben die Ausbeulung zu stellen, die sie für den Kopf der in Decken gehüllten Gestalt hielt. Wie gewohnt keine Bewegung, kein Hinweis, daß etwas Lebendiges darunter war. Sie richtete sich auf. Es kam ein schwaches Grunzen aus der Decke. »Gute Nacht, Joe«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst, und ging über die Straße.
    Zu dieser Tageszeit, besonders in dieser Jahreszeit, wenn das Tageslicht allzu rasch schwand und eine gewisse Rauhheit in der Luft zurückließ, legte sich eine friedliche Stille über die Stadt. Die Läden waren geschlossen, die Gitter heruntergelassen, die Straßen leer, die Kinder zum Essen zu Hause; die dynamischen jungen Berufstätigen waren entweder noch nicht aus ihren Büros gekommen oder bereiteten sich vor, zum Essen auszugehen. Verkehr und Lärm in allen gutbürgerlichen Wohnvierteln der Stadt ließen allmählich nach. Wetzon liebte diese besondere Eigenschaft New Yorks. Es war, als verlöre die wunderbare Maschine, die New York war, an Schwung und käme buchstäblich zum Stillstand, bis nach kurzer Pause die Mannschaft der Nachtschicht anträte.
    Eben jetzt, so dankbar sie für die Stille war, kamen ihre Gedanken unerbittlich auf Barry Stark und die äußerste Stille seines Todes zurück.
    Ein riesiger Kran stand auf der anderen Straßenseite, wo ein Gebäude im Entstehen war, umgeben vom üblichen Baustellendurcheinander: Eisenträger, eine Zementmischmaschine, Stöße von Backsteinen und Schlackensteinen und ein Sortiment von großen schwarzen Metalltrommeln. Im unscharfen Licht der Straßenlampen warfen die unvertrauten Gegenstände tiefe Schatten.
    Ihre Umhängetasche rutschte wieder von der Schulter, als sie die 86. Street zur Nordseite überquerte, und störte ihr Gleichgewicht. Sie war mit ihren Gedanken weit weg, als ein sonderbarer hohler Schrei die Luft zerriß und von den blinden Glasfenstern an Lichtman’s Bakery an der Südwestecke der 86. und Amsterdam zurückgeworfen wurde.
    »Aus — aus — aus — aus!«
    Sie drehte sich um die eigene Achse, bekam eine Wolke eines bekannten Dufts in die Nase und spürte etwas an ihrem Mantel zerren. Ein heftiger Schlag in die Seite aus einer anderen Richtung wirbelte sie herum, nahm ihr die Kontrolle, raubte ihr die Luft zum Schreien und schleuderte sie über die Straße. Ihre Instinkte sendeten währenddessen die Botschaft, sich zu entspannen, während des Flugs zu entspannen, denn sie flog, ungebremst, hilflos. Sie rollte und rollte durch den Schmutz und Müll, dann prallte sie gegen etwas Festes.
    Betäubt, in den Regenmantel und den Riemen der Handtasche verheddert, kroch sie auf das trübe Licht zu. Ihr Haar hatte sich gelöst und hing in die Augen. War sie überfallen und ausgeraubt worden? Lief das so ab? Sie hob vorsichtig den Kopf in ihrer geduckten Haltung, um sich zu orientieren. Sie befand sich halb unter dem Baukran. Schmutzig, verschmiert, zerrissene Strumpfhose. Böse Schweinerei. Autohupen plärrten.
    Auf den Knien jetzt sah sie in den verzerrten Schatten, die von Straßenlampen und Autoscheinwerfern geworfen wurden, zwei Gestalten, wie ihr schien, die grotesk mitten auf der Amsterdam Avenue tanzten. Starr, atemlos beobachtete sie mit Entsetzen, wie eine der dunklen Gestalten sich von der anderen löste und die Arme in den Himmel reckte. Die Straßenlampe ließ etwas aufblitzen, etwas in der Hand, das hart auf die andere Gestalt hinunterfuhr. Sie hörte einen kurzen Aufschrei, wie von einem gequälten Tier, dann einen gurgelnden Laut, als erstickte jemand. Eine der Gestalten riß sich los und rannte in Richtung Broadway. Die andere Gestalt drehte sich kurz, stolperte und stürzte auf die Straße. Der Verkehr stand. Ein herannahender Bus bremste scharf. Der Taxifahrer hinter dem Bus mischte sich in das Hupkonzert ein. Aus den Schatten traten immer mehr Leute vor.
    Zerschunden, aber mit präzisen Bewegungen, wie Coppelia, richtete Wetzon sich auf und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Ihre Aktentasche lag mit dem zerrissenen Zabar’s- Beutel vor dem Kran. Sie mußte sie bis zum letzten Augenblick festgehalten haben. Sie vermißte einen Schuh.
    Die Avenue war erfüllt von Stimmen, Hupen, Lichtern, Menschen. Humpelnd, die Handtasche an dem langen Riemen haltend, bahnte sie sich einen Weg durch die Menschengruppe und sah den zusammengekrümmten Körper eines Mannes auf der Straße liegen. Sein langes weißes Haar breitete sich wie ein Fächer auf dem

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