Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
auf die Jagd nach einem fehlenden Glied in der Kette der Ermittlungen im Fall des Doppelmordes von Lenarp begeben.
Alle anderen Gedanken verdrängte er. Die würde er erst dann wieder aufkommen lassen, wenn er sie ertragen konnte. Wenn er seinen Kater überwunden und zu allem etwas Abstand bekommen hatte.
Er war der einzige Gast im Speisesaal des Hotels. Er sah auf das Meer hinaus, das durch den Schneeregen nur als grauer Schleier zu erkennen war. Ein Fischerboot verließ den Hafen, und er versuchte die Nummer zu entziffern, die mit schwarzer Farbe auf die Bordwand gemalt war.
Ein Bier, dachte er. Ein richtig gut gezapftes Pils ist genau das, was ich jetzt brauche.
Die Versuchung war groß. Er überlegte auch, daß er tagsüber noch in einem der staatlichen Alkoholgeschäfte einkaufen sollte, damit er abends etwas trinken konnte.
Er hatte das Gefühl, daß es besser für ihn war, nicht so schnell wieder nüchtern zu werden.
Ich bin ein Scheißpolizist, dachte er.
Ein zwielichtiger Bulle.
Die Kellnerin schenkte ihm Kaffee nach. Er stellte sich vor, ein Zimmer im Hotel zu buchen, und daß sie zu ihm kam. Hinter vorgezogenen Gardinen würde er vergessen, daß es ihn gab, alles um sich herum vergessen und in ein Land versinken, das nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
Er trank den Kaffee aus und nahm seine Aktenmappe. Er hatte noch genügend Zeit, das Ermittlungsmaterial durchzusehen.
Von einer plötzlichen Unruhe erfüllt, ging er in die Rezeption und rief bei der Polizei in Ystad an. Ebba war am Apparat.
|177| »Hattest du einen schönen Abend?« fragte sie.
»Es hätte nicht besser sein können«, antwortete er. »Und noch mal vielen Dank für deine Hilfe bei der Anzugreinigung.«
»Hab’ ich doch gern gemacht.«
»Ich rufe vom Hotel ›Svea‹ in Simrishamn an. Ich wollte nur hören, ob alles in Ordnung ist. Später bin ich mit Boman von der Kristianstader Polizei unterwegs. Aber ich melde mich wieder.«
»Hier ist alles ruhig. In den Unterkünften ist nichts passiert.«
Er legte auf, ging auf die Toilette und wusch sich das Gesicht. Er vermied es, sich im Spiegel anzusehen. Er befühlte die Beule an der Stirn mit den Fingerspitzen. Sie tat weh. Das Brennen im Arm dagegen war fast verschwunden.
Nur wenn er sich reckte, spürte er noch den stechenden Schmerz im Oberschenkel.
Als er in den Speisesaal zurückkam, bestellte er sich ein Frühstück. Während des Essens blätterte er seine Unterlagen durch.
Göran Boman war pünktlich. Punkt neun Uhr betrat er den Speisesaal.
»Was für ein Sauwetter!« sagte er.
»Immer noch besser als ein Schneesturm«, antwortete Kurt Wallander. Während Göran Boman Kaffee trank, planten sie ihren weiteren Tagesablauf.
»Es sieht aus, als hätten wir Glück«, erklärte Göran Boman. »Die Frau in Gladsax und die beiden Frauen aus Kristianstad scheinen ohne Probleme erreichbar zu sein.«
Sie begannen mit der Frau in Gladsax.
»Sie heißt Anita Hessler«, sagte Göran Boman. »58 Jahre alt. Sie ist seit ein paar Jahren mit einem Immobilienmakler in zweiter Ehe verheiratet.«
»Ist Hessler ihr Mädchenname?« fragte Kurt Wallander.
»Sie heißt jetzt Johanson. Ihr Mann heißt Klas Johanson. Sie wohnen in einer Siedlung mit Einfamilienhäusern, die etwas |178| außerhalb liegt. Wir haben ein paar Erkundigungen über sie eingezogen. Soweit wir herausbekommen haben, ist sie Hausfrau.«
Er kontrollierte seine Papiere.
»Am neunten März 1951 brachte sie auf der Entbindungsstation des Kristianstader Krankenhauses einen Jungen zur Welt. Um 4.13 Uhr, um genau zu sein. Nach unseren Informationen ist es ihr einziges Kind. Aber Klas Johanson hat aus seiner ersten Ehe vier Kinder. Außerdem ist er sechs Jahre jünger als sie.«
»Ihr Sohn ist heute also 39 Jahre alt«, rechnete Kurt Wallander aus.
»Er wurde Stefan getauft«, fügte Göran Boman hinzu. »Er wohnt in Åhus und arbeitet als Steuerberater in Kristianstad. Geordnete finanzielle Verhältnisse. Reihenhaus, Frau, zwei Kinder.«
»Begehen Steuerberater öfters Mord?« fragte Kurt Wallander.
»Nicht besonders oft«, antwortete Göran Boman.
Sie fuhren nach Gladsax. Der Schneeregen war nun in Sprühregen übergegangen. Direkt am Ortseingangsschild bog Göran Boman nach links ab.
Die Wohnsiedlung bildete einen starken Kontrast zu den flachen weißen Häusern des eigentlichen Ortes. Kurt Wallander dachte, daß es genauso ein von wohlhabenden Leuten bewohnter Vorort einer Großstadt hätte
Weitere Kostenlose Bücher