Wallander 02 - Hunde von Riga
Whisky auf seinem Tisch. Es kostete fast genauso viel wie die Mahlzeit, die er kurz zuvor verspeist hatte. Er schnupperte am Inhalt des Glases, dachte an eine Verschwörung und vergiftete Getränke und prostete sich anschließend schlechtgelaunt selbst zu.
Das Mädchen, das sich nicht vorstellte, tauchte aus dem Halbdunkel auf und setzte sich auf den Stuhl neben ihm. Er bemerkte sie erst, als sie ihren Kopf dicht an sein Gesicht führte. Ihr Parfüm erinnerte ihn an den Geruch von Winteräpfeln. Als sie ihn auf deutsch ansprach, schüttelte er den Kopf. Ihr Englisch war schlecht, noch viel schlechter als das des Majors. Jedenfalls |125| bot sie ihm ihre Gesellschaft an und wollte einen Drink haben. Wallander war völlig überrumpelt. Sie war eine Prostituierte, aber er versuchte, den Gedanken zu verdrängen. In diesem trostlosen und kalten Riga wollte er gerne mit jemandem sprechen, der nicht Oberst bei der Polizei war. Zu einem Drink konnte er sie einladen, schließlich zog er die Grenzen. Nur bei einigen wenigen Gelegenheiten, bei denen er wirklich betrunken gewesen war, hatte er völlig seine Selbstbeherrschung verloren. Im vorigen Jahr hatte er sich in einem Anfall von Wut und Erregung auf die Distriktsstaatsanwältin Anette Brolin gestürzt. Es schauderte ihn bei dem Gedanken. Das darf nie wieder vorkommen, dachte er, schon gar nicht hier, in Riga.
Gleichzeitig mußte er sich eingestehen, daß ihm ihre Aufmerksamkeit schmeichelte.
Sie setzt sich zu früh an meinen Tisch, dachte er. Ich bin gerade erst gekommen, ich habe mich noch nicht an dieses seltsame Land gewöhnt.
»Morgen vielleicht«, sagte er. »Nicht heute abend.«
Im nächsten Moment wurde ihm klar, daß sie kaum älter als zwanzig sein konnte. Hinter dem stark geschminkten Gesicht ließ sich ein anderes Gesicht erahnen, das ihn an seine Tochter erinnerte. Er leerte sein Glas, stand auf und ging.
Ich war nahe dran, dachte er. Viel zu nahe.
Im Foyer saß noch immer der graugekleidete Mann mit seiner Zeitung. Schlaf gut, dachte Wallander. Wir sehen uns morgen bestimmt wieder.
Er schlief unruhig. Die Decke war schwer und das Bett unbequem. Im Schlaf hörte er ein Telefon, das ununterbrochen klingelte. Er wollte aufstehen und drangehen, aber als er erwachte, war um ihn herum alles still.
Am nächsten Morgen wachte er auf, als es an die Tür klopfte. Noch halb schlafend rief er »Herein«. Als es noch einmal klopfte, fiel ihm ein, daß der Schlüssel von innen steckte. Er zog sich die Hose an und öffnete. Vor der Tür stand eine Frau |126| in einem Putzkittel mit einem Frühstückstablett in der Hand. Er war überrascht, denn er hatte kein Frühstück bestellt. Vielleicht gehörte das ja zum normalen Service des Hauses? Oder hatte sich Sergeant Zids vielleicht darum gekümmert?
Das Zimmermädchen wünschte ihm auf lettisch einen guten Morgen, und er versuchte sich den Ausdruck zu merken. Sie stellte das Tablett auf einen Tisch, lächelte scheu und ging zur Tür. Er folgte ihr, um hinter ihr wieder abzuschließen.
Dann ging alles sehr schnell. Statt das Zimmer zu verlassen, verriegelte das Zimmermädchen die Tür von innen und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Wallander sah sie verständnislos an. Aus einer Tasche ihres Putzkittels zog sie vorsichtig einen Zettel. Wallander wollte gerade etwas sagen, als sie ihm die Hand vor den Mund hielt. Er spürte ihre Angst, begriff, daß sie überhaupt kein Zimmermädchen war, und daß sie keine Bedrohung für ihn darstellte. Sie hatte einfach nur Angst. Er nahm den Zettel und las den englischen Text. Er las ihn zweimal und lernte ihn dabei auswendig. Dann sah er sie an, und sie steckte die Hand in die andere Tasche und zog etwas heraus, was wie ein zusammengefaltetes Plakat aussah. Sie gab es ihm, und als er es auseinanderfaltete, sah er, daß es der Schutzumschlag des Buches über Schonen war, das er vor einer Woche Major Liepa, ihrem Mann, geschenkt hatte. Er sah sie wieder an. In ihrem angstvollen Gesicht lag auch noch ein anderer Ausdruck, Entschlossenheit oder vielleicht auch Trotz, und er ging über den kalten Fußboden, nahm einen Stift vom Schreibtisch und schrieb auf die Rückseite des Buchumschlags, auf dem der Dom von Lund abgebildet war, daß er verstanden hatte.
I have understood.
Er gab ihr den Umschlag zurück und dachte, daß Baiba Liepa ganz anders aussah, als er sie sich vorgestellt hatte. Er konnte sich zwar nicht genau erinnern, was für eine Frau er sich vorgestellt hatte, als
Weitere Kostenlose Bücher