Wallander 03 - Die weisse Löwin
Unser ganzes Rechtssystem fußt auf diesem Grundsatz. Nun wird mir langsam klar, daß vielleicht das Gegenteil richtig ist. Die Wahrheit ist kompliziert, vielschichtig, widersprüchlich. Die Lüge dagegen ist schwarz und weiß. Wenn man auf einen Menschen, auf das Leben eines Menschen respektlos und verachtungsvoll blickt, dann wird auch die |312| Wahrheit eine andere, als wenn das Leben als unantastbar angesehen wird.
Er betrachtete Victor Mabasha, der ihm aufrichtig in die Augen sah.
»Hast du Louise Åkerblom getötet?« fragte Wallander ein letztes Mal.
»Nein«, antwortete Victor Mabasha. »Danach opferte ich meinen Finger für ihre Seele.«
»Du willst immer noch nicht erzählen, was du tun wirst, wenn du zurückkehrst?«
Bevor Victor Mabasha antwortete, merkte Wallander, daß sich eine Veränderung vollzog. Die Gesichtszüge des schwarzen Mannes verschoben sich leicht. Später dachte er, daß die Maske der Ausdruckslosigkeit plötzlich begonnen hatte, sich aufzulösen und zu verschwinden.
»Ich kann es noch nicht. Aber es wird nicht geschehen.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht«, sagte Wallander langsam.
»Der Tod wird nicht von meinen Händen kommen. Aber ich kann nicht verhindern, daß es durch andere geschieht.«
»Ein Attentat?«
»Das ich ausführen sollte. Aber ich gebe den Auftrag ab. Ich lege ihn auf den Boden und gehe davon.«
»Du sprichst in Rätseln. Was willst du auf die Erde legen? Ich will wissen, gegen wen sich dieses Attentat richten sollte.« Aber Victor Mabasha gab keine Antwort. Er schüttelte den Kopf, und Wallander erkannte, wenn auch sehr widerstrebend, daß er nicht weiterkommen würde. Später sollte er auch einsehen, daß er noch einen langen Weg gehen mußte, bis er gelernt hätte, die Wahrheiten herauszufinden, die sich an ganz anderer, ungewohnter Stelle verbargen. Kurzum, er verstand erst im nachhinein, daß das letzte Bekenntnis, bei dem Victor Mabasha die Maske hatte fallen lassen, schlichtweg falsch war. Er hatte keinesfalls die Absicht, seinen Auftrag abzugeben. Aber er hatte begriffen, daß diese Lüge von ihm gefordert wurde, wollte er die benötigte Hilfe bei der Ausreise aus diesem Land erhalten. Um Glaubwürdigkeit zu erlangen, war er gezwungen zu lügen, und zwar geschickt, um den schwedischen Polizisten zu täuschen.
|313| Wallander hatte erst einmal keine Fragen mehr.
Er fühlte sich müde. Aber gleichzeitig hatte er vielleicht erreicht, was er erreichen wollte. Das Attentat war verhindert, jedenfalls als eine Tat Victor Mabashas. Wenn er die Wahrheit gesagt hatte. Das würde seinen unbekannten Kollegen in Südafrika mehr Zeit geben. Und er konnte sich nicht vorstellen, daß das, was Victor Mabasha aufgab, etwas anderes als eine für die Schwarzen in Südafrika vorteilhafte Handlung war.
Das reicht, dachte Wallander. Ich werde über Interpol Kontakt zur südafrikanischen Polizei aufnehmen und alles, was ich weiß, weitergeben. Mehr kann ich nicht tun. Nun bleibt nur noch Konovalenko übrig. Wenn ich versuche, Per Åkesson dazu zu bringen, diesen Mann einzusperren, ist das Risiko groß, daß noch größere Verwirrung entsteht. Außerdem wächst die Gefahr, daß Konovalenko das Land verläßt. Mehr muß ich nicht wissen. Nun kann ich meine letzte ungesetzliche Handlung im Fall Victor Mabasha begehen.
Ich werde ihm helfen, von hier wegzukommen.
Während des letzten Teils des Gesprächs war auch seine Tochter dabeigewesen. Sie war aufgewacht und verwundert in die Küche gekommen. Wallander hatte ihr kurz erklärt, wer der Mann war.
»Der, der dich niedergeschlagen hat?«
»Genau der.«
»Und jetzt sitzt er hier und trinkt Kaffee?«
»Ja.«
»Und du meinst nicht selbst, daß das ein wenig seltsam ist?«
»Das Leben eines Polizisten ist immer seltsam.«
Dann hatte sie nicht mehr gefragt. Als sie sich angezogen hatte, war sie zurückgekommen und hatte still auf einem Stuhl gesessen und zugehört. Danach hatte Wallander sie zur Apotheke geschickt, um Binden für die Hand zu kaufen. Im Badezimmerschrank hatte er eine Packung Penicillin gefunden und Victor Mabasha die Tabletten gegeben, wobei ihm sehr wohl klar war, daß er eigentlich einen Arzt hätte rufen müssen. Widerwillig hatte er dann die Wunde am Fingerstumpf gesäubert und einen sauberen Verband um die Hand gewickelt.
|314| Dann hatte er Lovén angerufen, der sofort an den Apparat ging. Er fragte nach Neuigkeiten über Konovalenko und die Verschwundenen in dem Mietshaus in Hallunda. Daß
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