Wallander 03 - Die weisse Löwin
daß es ihm nicht leichtfiel. »Ich höre.«
»Jemand hat dich gestern mit einem Afrikaner gesehen. In deinem Auto. Ich dachte nur …«
»Was dachtest du?«
»Ich weiß eigentlich nicht.«
»Linda hat den Kontakt zu ihrem Kenianer wiederaufgenommen.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Gerade sagtest du doch, du wüßtest eigentlich nicht, was du denkst?«
Martinsson hob die Arme und zog eine Grimasse. Dann verließ er schnell das Zimmer.
Wallander ließ den Fall der gestohlenen Pferde liegen, schloß die Tür, die Martinsson hatte offenstehen lassen, und setzte sich, um nachzudenken. Welche Fragen sollte Victor Mabasha ihm eigentlich beantworten? Und wie konnte er nachprüfen, was die Wahrheit war?
In den letzten Jahren war Wallander bei verschiedenen Ermittlungen in Kontakt mit ausländischen Bürgern gekommen. Er hatte mit ihnen gesprochen, mit Opfern von Verbrechen und möglichen Tätern gleichermaßen. Oft hatte er gemerkt, daß seine Vorstellungen von absoluter Wahrheit über Richtig und Falsch sowie Schuld und Unschuld nicht immer brauchbar waren. Vorher war ihm auch nicht klar gewesen, wie sehr die Ansichten |317| darüber, was denn ein Verbrechen und ob es geringfügig oder schwer sei, in den verschiedenen Kulturkreisen auseinandergingen. In solchen Situationen hatte er sich oft hilflos gefühlt. Ihm schienen alle Voraussetzungen zu fehlen, um die Fragen zu stellen, die dazu führen konnten, daß ein Verbrechen aufgeklärt oder ein Verdächtigter auf freien Fuß gesetzt werden konnte. In dem Jahr, als Rydberg, sein alter Freund und Lehrmeister, gestorben war, hatten sie sich oft über die tiefgreifende Veränderung unterhalten, die in Schweden wie in der ganzen Welt vor sich ging. Die Polizei würde völlig neuen Anforderungen genügen müssen. Rydberg hatte bedächtigt seinen Whisky getrunken und prophezeit, daß sich die schwedische Polizei in den nächsten zehn Jahren von Grund auf ändern müßte. Aber diesmal würde es nicht nur um tiefgreifende organisatorische Maßnahmen gehen, sondern die polizeiliche Arbeit selbst betreffen.
»Das möchte ich gar nicht mehr erleben«, hatte Rydberg gesagt, als sie auf seinem engen Balkon zusammensaßen. »Jeder Mensch hat seine Zeit. Manchmal fühle ich Wehmut, bei dem Kommenden nicht mehr dabeisein zu dürfen. Sicher wird es schwer. Aber auch spannend. Du dagegen wirst mittendrin sein. Und es wird dir nichts anderes übrigbleiben, als ganz neue Gedanken zu denken.«
»Ich frage mich, ob ich das noch schaffen werde«, hatte Wallander geantwortet. »Immer öfter stelle ich mir die Frage, ob es nicht auch ein Leben jenseits des Polizeigebäudes gibt.«
»Solltest du nach Westindien segeln, dann sieh zu, daß du nie zurückkommst«, meinte Rydberg ironisch. »Die in die Welt hinausziehen und dann wiederkommen, fühlen sich nach ihrem Abenteuer selten besser. Sie betrügen sich selbst. Sie haben die alte Wahrheit nicht verstanden, daß man nicht vor sich selbst ausreißen kann.«
»Das werde ich nicht tun. So große Pläne trage ich nicht in mir. Ich kann aber durchaus darüber nachdenken, ob es eine andere Arbeit gibt, bei der ich mich wohl fühlen würde.«
»Du bleibst Polizist, solange du lebst. Du bist wie ich. Sieh es ruhig ein.«
|318| Wallander verscheuchte die Gedanken an Rydberg, nahm sich ein leeres Kollegheft und griff nach dem Stift.
Fragen und Antworten, dachte er. Der erste Fehler entsteht vermutlich bereits hier. Viele Menschen, nicht zuletzt von den Kontinenten, die am weitesten entfernt von Schweden liegen, müssen frei erzählen dürfen, um eine Antwort formulieren zu können. Das sollte mir klar sein, nachdem ich mit einer Anzahl von Afrikanern, Arabern und Lateinamerikanern in verschiedenen Zusammenhängen gesprochen habe. Sie erschrecken oft vor unserer Ungeduld, die, wie sie glauben, eigentlich ein Ausdruck von Verachtung ist. Für einen Menschen keine Zeit zu haben, nicht mit jemandem still zusammensitzen zu können, bedeutet, ihn abzulehnen, ihn zu verhöhnen.
ERZÄHLE, schrieb er ganz oben auf eine leere Seite seines Heftes.
Vielleicht konnte ihn das in die richtige Richtung führen.
Erzähle, nichts weiter.
Er schob das Kollegheft beiseite und legte die Füße auf den Schreibtisch. Dann rief er zu Hause an und hörte von Linda, daß alles ruhig war. Er versprach, in ein paar Stunden zu kommen.
Zerstreut las er sich die Anzeige wegen der vermißten Pferde durch. Er erfuhr lediglich, daß in der Nacht zum 6. Mai drei
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