Wallander 03 - Die weisse Löwin
tastete sie mit einer Hand über den rauhen Fußboden. Er war nicht gegossen, sondern aus Steinen zusammengefügt. Sie sagte sich, daß sie sich in einem Keller befand. Im Haus in Österlen, wo ihr Großvater wohnte und wo sie von einem unbekannten Mann brutal geweckt und fortgebracht worden war, gab es im Kartoffelkeller auch so einen Fußboden.
Als ihre Sinne alles registriert hatten, was es zu erforschen gab, fühlte sie, daß ihr schlecht wurde und ihre Kopfschmerzen langsam stärker wurden. Sie wußte nicht, wie lange sie schon in Dunkelheit und Stille lag, denn ihre Armbanduhr war noch auf dem Tisch neben ihrem Bett. Dennoch hatte sie das bestimmte Gefühl, daß seit ihrer Entführung viele Stunden vergangen waren.
Ihre Arme waren frei, um die Fußgelenke jedoch spürte sie Ketten. Mit den Fingern ertastete sie ein Vorhängeschloß. Das Gefühl, auf diese Weise gefesselt zu sein, jagte ihr Kälteschauer über den Rücken. Sie dachte, daß Menschen doch meist mit Stricken gebunden wurden. Die waren weicher, anschmiegsamer. Ketten gehörten in eine vergangene Zeit, zu Sklaverei und Ketzerprozessen.
Aber das schlimmste an diesem Augenblick des Erwachens war die Wahrnehmung, fremde Kleider zu tragen. Sie fühlte sofort, daß es nicht ihre Sachen waren. Sie wirkten fremd. Form und Farben konnte sie nicht sehen, meinte aber, sie unter den Fingerspitzen zu fühlen. Sie rochen stark nach einem Waschmittel. Es waren nicht ihre Kleider, und jemand hatte sie ihr angezogen. Jemand hatte ihr das Nachthemd abgestreift und sie vollständig eingekleidet, von der Unterwäsche bis zu Strümpfen und Schuhen. Dieser Übergriff ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Der Brechreiz wurde immer stärker; sie barg das Gesicht in den Händen und schwankte mit dem Oberkörper vor und zurück. Das darf nicht wahr sein, dachte sie verzweifelt. Aber es war doch wahr, und sie konnte sich sogar daran erinnern, was geschehen war.
Sie hatte irgend etwas geträumt, konnte sich aber an die Zusammenhänge nicht mehr erinnern. Sie war aufgewacht, als ein |397| Mann ihr plötzlich ein Tuch auf Nase und Mund gedrückt hatte. Ein scharfer Geruch, dann durchströmte sie ein betäubendes, einschläferndes Gefühl. Schwach drang das Licht der Küchenlampe in ihr Zimmer. Sie hatte einen Mann vor sich gesehen. Sein Gesicht kam ihrem sehr nahe, als er sich über sie gebeugt hatte. Jetzt, als sie an ihn dachte, erinnerte sie sich daran, daß er stark nach Rasierwasser gerochen hatte, obwohl er unrasiert war. Er hatte kein Wort gesprochen. Aber obwohl es dunkel im Raum war, hatte sie seine Augen gesehen und daran denken müssen, daß sie die wohl nie vergessen würde. Dann erinnerte sie sich an nichts mehr, bis sie auf dem feuchten Steinboden erwacht war. Natürlich war ihr klar, warum das geschehen war. Der Mann, der sich über sie gebeugt und sie betäubt hatte, war höchstwahrscheinlich der Mann, der ihren Vater jagte und von diesem gejagt wurde. Seine Augen waren die Konovalenkos; so jedenfalls sahen sie in ihrer Vorstellung aus. Der Mann, der Victor Mabasha auf dem Gewissen hatte und einen Polizisten getötet hatte und der noch einen weiteren töten wollte – ihren Vater. Er war es, der in ihr Zimmer geschlichen war, sie angezogen und ihr Ketten um die Fußgelenke gelegt hatte.
Als die Kellerluke geöffnet wurde, war sie vorbereitet. Später sagte sie sich, daß der Mann wahrscheinlich oben gestanden und gelauscht hatte. Das Licht, das durch die Öffnung drang, war sehr grell; vielleicht sollte es sie blenden. Sie erkannte undeutlich, daß eine Leiter herabgelassen wurde und daß sich braune Schuhe mit Hosenbeinen darüber näherten. Und dann war das Gesicht wieder da, dasselbe Gesicht und dieselben Augen, die sie gesehen hatte, als sie betäubt wurde. Sie wendete sich ab, um nicht geblendet zu werden, und die Angst kehrte zurück und ließ sie erstarren. Aber dennoch fiel ihr auf, daß der Keller größer war, als sie im Dunkeln gedacht hatte. Wände und Decke waren weit entfernt. Vielleicht befand sie sich in einem Raum, der sich unter dem ganzen Haus erstreckte.
Der Mann stand genau im Licht. Er hatte eine Taschenlampe in der einen Hand. In der anderen hielt er einen Metallgegenstand, den sie nicht sofort erkannte.
Dann entdeckte sie, daß es eine Schere war.
|398| Da schrie sie. Laut und anhaltend. Sie glaubte, er wäre hinabgestiegen, um sie mit der Schere zu töten. Sie griff nach der Kette an ihren Füßen und begann, daran zu zerren, als ob
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