Wallander 03 - Die weisse Löwin
sie sich trotz allem befreien könnte. Die ganze Zeit leuchtete er sie mit der Taschenlampe an; sein Kopf wirkte nur wie ein Schattenriß gegen das starke Licht im Hintergrund.
Plötzlich richtete er die Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht. Er hielt sie sich unters Kinn, so daß seine Züge denen eines Totenschädels glichen. Sie hörte auf zu schreien. Es war, als ob die Schreie ihre Angst nur noch vergrößerten. Gleichzeitig spürte sie eine eigenartige Müdigkeit. Es war schon zu spät, es war sinnlos, Widerstand zu leisten.
Der Totenschädel begann plötzlich zu sprechen. »Du schreist umsonst«, sagte Konovalenko. »Niemand hört dich. Außerdem riskierst du, daß ich böse werde. Dann könnte ich dir weh tun. Am besten, du bist still.«
Die letzten Worte flüsterte er.
Papa, dachte sie. Du mußt mir helfen.
Dann geschah alles sehr schnell. Mit derselben Hand, in der er die Taschenlampe hielt, griff er in ihr Haar, hielt es hoch und begann es abzuschneiden. Sie zuckte zusammen, vor Wut und vor Überraschung. Aber er hielt sie so fest, daß sie sich nicht rühren konnte. Sie hörte den trockenen Laut der scharfen Schere, der sich vom Nacken her ihrem Ohrläppchen näherte. Es ging sehr schnell. Dann ließ er sie los. Die Übelkeit kam wieder. Die abgeschnittenen Haare waren eine weitere Kränkung, ähnlich der, bewußtlos von ihm angezogen worden zu sein.
Konovalenko rollte die Haare zusammen und steckte sie in die Tasche.
Er ist krank, dachte sie. Er ist verrückt, ein Sadist, ein wahnsinniger Mensch, der ungerührt tötet.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als er sie erneut ansprach. Die Taschenlampe beleuchtete ihren Hals, an dem sie eine Kette trug. Der Anhänger stellte eine Laute dar; sie hatte ihn von ihren Eltern bekommen, als sie fünfzehn war.
»Den Schmuck. Mach ihn ab.«
Sie tat, was er befohlen hatte, und achtete darauf, daß sich ihre |399| Hände bei der Übergabe nicht berührten. Schweigend kletterte er die Leiter wieder hinauf und warf die Luke zu. Sie blieb der Dunkelheit überlassen.
Dann kroch sie zur Seite, bis sie die eine Wand erreichte. Sie tastete sich vor bis zur nächsten Ecke. Dort versuchte sie, sich zu verstecken.
Bereits am Abend zuvor, nach der geglückten Entführung der Tochter des Polizisten, hatte Konovalenko Tania und Sikosi Tsiki aus der Küche gewiesen. Er hatte ein großes Bedürfnis, allein zu sein, und die Küche gefiel ihm nun mal am besten.
In diesem Haus, dem letzten, das Rykoff in seinem Leben gemietet hatte, war die Küche der bei weitem größte Raum. Sie war im alten Stil gehalten, mit sichtbaren Dachbalken, einem eingebauten Backofen und offenen Schränken für das Geschirr. An einer Wand hingen Kupferkessel. Konovalenko erinnerte sich an seine Kindheit in Kiew, an die große Küche der Kolchose, in der sein Vater Politkommissar gewesen war.
Zu seiner Verwunderung hatte er gemerkt, daß er Rykoff vermißte. Das war nicht nur darauf zurückzuführen, daß die praktische Arbeit ihn nun selbst stärker belastete. Da war auch ein Gefühl, das man zwar kaum als Schwermut oder Trauer bezeichnen konnte, das seine Stimmung aber dennoch dämpfte. In seinen vielen Jahren als KG B-Offizier hatte sich der Wert des Lebens für ihn allmählich darauf reduziert, alles und jeden in verfügbare Ressourcen und verzichtbare Personen einzuteilen. Ausnahmen bildeten er selbst und seine beiden Kinder. Er war ständig vom Tod umgeben, der unverhofft kam; alle gefühlsmäßigen Reaktionen waren nach und nach fast gänzlich verschwunden. Aber Rykoffs Tod berührte ihn und vertiefte seinen Haß auf den Polizisten, der ihm ständig in die Quere kam. Jetzt hatte er dessen Tochter in der Gewalt und damit den Köder, der ihn anlocken würde. Aber der Gedanke an Rache konnte ihn doch nicht ganz von seiner Niedergedrücktheit befreien. Er saß in der Küche und trank Wodka, vorsichtig, um nicht allzu betrunken zu werden, und betrachtete ab und zu sein Gesicht in einem Spiegel, der an der Wand hing. Ihm fiel plötzlich auf, daß er abstoßend |400| aussah. Wurde er langsam alt? War mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums auch etwas von seiner eigenen Härte und Kälte verlorengegangen?
Um zwei Uhr nachts, als Tania schlief oder zumindest so tat und Sikosi Tsiki sich in seinem Zimmer eingeschlossen hatte, ging er in die Küche und rief Jan Kleyn an. Er hatte sich genau überlegt, was er sagen würde. Ihm war klargeworden, daß es keinen Grund gab zu verschweigen,
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