Wallander 03 - Die weisse Löwin
Auto und fuhr weiter durch die unendlichen Wälder. Als er Växjö erreichte, zögerte er einen Augenblick, ob er die Fahrt über Älmhult oder Tingsryd fortsetzen sollte. Schließlich entschied er sich für Tingsryd, um sofort nach Süden abbiegen zu können.
Es geschah, als er Tingsryd passiert hatte und auf die Straße nach Ronneby eingebogen war. Plötzlich tauchte ein Elch vor ihm auf. Im bleichen Licht der Dämmerung hatte er ihn nicht gesehen. Es war viel zu spät, er hatte nicht rechtzeitig reagiert, das begriff er in einem kurzen, verzweifelten Augenblick, als das Kreischen der Bremsen ihm in den Ohren gellte. Er würde frontal mit dem riesigen Elchbullen zusammenstoßen und hatte nicht |494| einmal den Sicherheitsgurt angelegt. Plötzlich jedoch drehte das Tier ab, und ehe er sich’s versah, war er an ihm vorbei, ohne es auch nur gestreift zu haben.
Er fuhr an den Straßenrand und blieb ganz ruhig sitzen. Das Herz schlug wie wild in seiner Brust, er keuchte und fühlte sich elend. Als er sich beruhigt hatte, stieg er aus. Wieder einmal um Haaresbreite am Tod vorbei, dachte er. Nun habe ich wohl nicht mehr viele Fahrten frei im Leben. Er wunderte sich, daß er keine jubelnde Freude darüber verspürte, wie durch ein Wunder dem Zusammenstoß mit dem Elchbullen entgangen zu sein. Was er empfand, war eher ein Gefühl unklarer Schuld und schlechten Gewissens. Das Vakuum der Niedergeschlagenheit, das in ihm entstanden war, als er dagesessen und Kaffee getrunken hatte, kehrte zurück. Am liebsten wollte er den Wagen stehenlassen und einfach in den Wald gehen, um spurlos zu verschwinden. Nicht für immer, nur so lange, bis die Balance wiederkehrte, bis das Schwindelgefühl bekämpft war, das die Ereignisse der letzten Wochen in ihm erzeugt hatten. Aber er setzte sich wieder ins Auto und fuhr weiter nach Süden, diesmal jedoch mit angelegtem Sicherheitsgurt. Er erreichte die Hauptstraße nach Kristianstad und bog nach Westen ab. In einem Café, das rund um die Uhr geöffnet hatte, hielt er gegen neun Uhr an und bestellte Kaffee. Lastwagenfahrer saßen schweigend an einem Tisch, ein paar Jugendliche tobten über einem elektronischen Spiel. Wallander trank seinen Kaffee erst, als er schon kalt geworden war. Dann ging er zurück zu seinem Wagen.
Kurz vor Mitternacht bog er in den Hof des Hauses, das seinem Vater gehörte. Seine Tochter kam heraus und begrüßte ihn. Er lächelte müde und sagte, daß alles gut sei. Dann fragte er, ob ein Anruf aus Kalmar gekommen sei. Sie schüttelte den Kopf. Lediglich einige Journalisten hatten angerufen.
»Deine Wohnung ist schon wieder in Ordnung«, sagte sie. »Du kannst wieder einziehen.«
»Gut«, sagte er.
Er überlegte, ob er in Kalmar anrufen sollte. Aber er war zu müde und verschob es auf den nächsten Tag.
In dieser Nacht saßen sie lange wach und unterhielten sich. |495| Aber Wallander erzählte nichts von dem Gefühl der Schwermut, das ihn bedrückte. Bis auf weiteres wollte er es für sich behalten.
Sikosi Tsiki hatte den Schnellbus von Kalmar nach Stockholm genommen. Er war den Instruktionen Konovalenkos für den Notfall gefolgt und kurz nach vier Uhr nachmittags in der Landeshauptstadt angekommen. Sein Flugzeug nach London würde um sieben in Arlanda starten. Da er sich verlaufen hatte und die Flughafenbusse nicht fand, nahm er ein Taxi nach Arlanda. Der Chauffeur, der Ausländern mißtraute, wollte die Fahrt im voraus bezahlt haben. Er hatte ihm einen Tausender gegeben und sich dann auf der Rückbank in die Ecke gedrückt. Sikosi Tsiki wußte nicht, daß er an allen schwedischen Paßkontrollen gesucht wurde. Er hatte sich lediglich eingeprägt, daß er als schwedischer Staatsbürger ausreiste. Leif Larson hieß er jetzt; in aller Eile hatte er gelernt, den Namen richtig auszusprechen. Er war vollkommen ruhig, denn er verließ sich auf Konovalenko. Er war im Taxi über die Brücke gefahren und hatte gesehen, daß etwas passiert war. Aber er dachte, daß es Konovalenko ganz sicher gelungen war, den unbekannten Mann unschädlich zu machen, der am Morgen im Garten aufgetaucht war.
In Arlanda erhielt Sikosi Tsiki sein Wechselgeld und schüttelte den Kopf, als er gefragt wurde, ob er eine Quittung benötige. Er ging in die Abflughalle, checkte ein und blieb auf dem Weg zur Paßkontrolle an einem Zeitungskiosk stehen, um ein paar englische Zeitungen zu kaufen.
Wenn er nicht zum Zeitungskiosk gegangen wäre, hätte man ihn an der Paßkontrolle festgenommen.
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