Wallander 03 - Die weisse Löwin
schnitten ihnen ihre Unterkiefer ab, die dann die Kraale der Könige zierten. Ich bin ein
Zulu
, einer meiner Finger ist abgeschnitten. Aber ich ertrage den Schmerz, und ich habe noch neun Finger, so viele, wie der Schakal Leben hat.
Als er es nicht mehr aushielt, war er auf gut Glück in einen schmalen Waldweg abgebogen, der zu einem See führte. Das Wasser war so schwarz, daß er zunächst glaubte, es sei Öl. Dort hatte er sich am Ufer auf einen Stein gesetzt, das blutige Handtuch abgenommen und sich gezwungen, die Hand in Augenschein zu nehmen. Sie fühlte sich fremd an und blutete nach wie vor; der Schmerz saß eher in seinem Bewußtsein als in der Wunde, die die Klinge hinterlassen hatte.
|195| Wie kam es, daß Konovalenko schneller gewesen war als er? Das sekundenlange Zögern hatte ihn besiegt. Er sah auch ein, daß seine Flucht gedankenlos gewesen war. Wie ein verwirrtes Kind hatte er sich benommen. Er hatte unwürdig gehandelt, gegen sich selbst und gegen Jan Kleyn. Er hätte bleiben und Konovalenkos Gepäck durchsuchen müssen, nach Flugtickets und Geld. Aber er hatte lediglich ein paar Sachen und die Pistole mitgenommen. An den Weg, den er gefahren war, konnte er sich auch nicht erinnern. Es gab keine Möglichkeit der Umkehr. Er würde nicht zurückfinden.
Die Schwäche, dachte er. Niemals ist es mir gelungen, sie zu besiegen, obwohl ich all meine Bindungen aufgegeben und mich von allem freigemacht habe, wozu ich erzogen wurde, als ich aufwuchs. Ich habe sie von
songoma
als Strafe erhalten. Sie hat den Geistern gelauscht und die Hunde mein Lied singen lassen, das von der Schwäche handelt, die ich niemals werde besiegen können.
Die Sonne, die in diesem eigentümlichen Land niemals zu ruhen schien, war bereits wieder über den Horizont gestiegen. Ein Raubvogel löste sich aus einem Baumwipfel und strich über den spiegelblanken See.
Zuallererst mußte er schlafen. Ein paar Stunden, nicht mehr. Er wußte, daß er nicht viel Schlaf brauchte. Dann würde ihm sein Gehirn wieder helfen können.
In einer Zeit, die ihm so fern schien wie die Urzeit seiner Vorfahren, hatte ihm sein Vater, Okumana, der Mann, der besser als jeder andere Speerspitzen schmieden konnte, erklärt, daß es immer einen Ausweg gab, solange man am Leben war. Der Tod war die letzte Zuflucht. Sie kam aber erst in Frage, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, einer scheinbar unüberwindlichen Bedrohung zu entgehen.
Es gab immer Auswege, die man zunächst nicht erkennen konnte, und deshalb hatte der Mensch im Gegensatz zu den Tieren Phantasie. Um nach innen blicken zu können, nicht nach außen. Nach innen, zu den geheimen Plätzen, wo die Geister |196| der Vorfahren darauf warteten, Wegweiser im Leben werden zu dürfen.
Wer bin ich? dachte er. Ein Mensch, der seine Identität verliert, ist kein Mensch mehr. Sondern ein Tier. Das ist es, was mit mir geschehen ist. Ich begann, Menschen zu töten, weil ich selbst tot war. Als ich Kind war und die Schilder sah, die verdammten Wegweiser, wo sich Schwarze aufhalten durften und welche Plätze ausschließlich den Weißen vorbehalten waren, verlor ich bereits an Leben. Ein Kind muß wachsen, größer werden, aber in meinem Land mußten die schwarzen Kinder lernen, kleiner und kleiner zu werden. Ich sah meine Eltern in ihrer eigenen Unsichtbarkeit, ihrer eigenen aufgestauten Bitterkeit ertrinken. Ich war ein gehorsames Kind und lernte, ein Niemand unter anderen zu sein. Der Unterschied war mein eigentlicher Vater. Ich lernte, was niemand sollte lernen müssen. Mit Falschheit, Verachtung zu leben; eine Lüge, die zur einzigen Wahrheit in meinem Land erhoben wurde. Eine Lüge, die von Polizisten und Paßgesetzen bewacht wurde, vor allem aber durch eine Flut weißen Wassers, einen Strom von Worten über den natürlichen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß, die Überlegenheit der weißen Zivilisation. Mich hat diese Überlegenheit zum Mörder gemacht,
songoma
. Und ich kann mir denken, daß das die äußerste Konsequenz von all dem ist, was ich gelernt habe durch das Kleinerwerden als Kind. Denn was ist dieser Unterschied, diese verfälschende weiße Überlegenheit, anderes gewesen als eine systematische Ausplünderung unserer Seelen? Wenn unsere Verzweiflung in rasender Zerstörung explodiert ist, haben die Weißen nicht die Verzweiflung gesehen und den Haß, der so unendlich viel größer ist. Das, was wir in uns getragen haben. In meinem Inneren sehe ich meine Gedanken und
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