Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
ist ein Bild der Welt«, erklärte sie. »So sieht sie aus, ob wir wollen oder nicht. Ein Mensch, der in größter Armut lebt, ist zu allem bereit, um sein Leben zu verteidigen, so elend es auch sein mag. Wie können wir darüber urteilen, wenn uns doch die Bedingungen völlig fremd sind? In den Slums von Rio oder Lagos, Kalkutta oder Madras kann man sich an eine Straßenecke stellen, dreißig Dollar hochhalten und rufen, daß man jemanden sucht, der bereit ist, einen Menschen zu töten. In weniger als einer Minute stehen die freiwilligen Scharfrichter Schlange. Und sie fragen nicht, wen sie töten sollen und warum. |282| Aber sie sind bereit, es für zwanzig Dollar zu tun, vielleicht auch für zehn. Eigentlich ahne ich einen Abgrund in dem, was ich tue. Ich verstehe meine Empörung, meine Verzweiflung. Aber ich weiß auch, daß alles, was ich unternehme, sinnlos bleibt, solange die Welt ist, wie sie ist.«
Wallander hatte schweigend zugehört. Nur ab und zu hatte er eine Frage gestellt, um besser zu begreifen. Sie hatte gesprochen, und ihm war klargeworden, daß sie ihm wirklich alles mitteilte, was sie wußte beziehungsweise ahnte, denn es gab nur sehr wenige Beweise.
Und dann, nach den vielen Stunden, war plötzlich alles gesagt.
»Mehr weiß ich nicht«, hatte sie versichert. »Aber wenn ich Ihnen damit helfen konnte, ist es ja gut.«
»Und ich weiß nicht einmal, ob mein Ausgangspunkt richtig ist. Wenn ja, dann habe ich den schwedischen Zweig dieser furchtbaren Organisation aufgespürt. Und wenn wir den zerschlagen könnten, wäre doch schon viel erreicht, oder?«
»Natürlich. Eine aufgeschlitzte Leiche weniger in Südamerika ist wichtiger als alles andere.«
Wallander verließ Malmö erst gegen neunzehn Uhr. Er machte sich Gedanken, weil er vergessen hatte, zwischendurch in Ystad anzurufen und über sein Vorhaben zu informieren. Das Gespräch mit Lisbeth Norin war ungemein fesselnd gewesen.
Sie hatte ihn bis zur Straße begleitet. Vor dem Parkhaus verabschiedeten sie sich.
»Einen ganzen Tag haben Sie mir geschenkt«, sagte Wallander. »Und ich kann ihn Ihnen nicht bezahlen.«
»Na und? Vielleicht revanchieren Sie sich einmal.«
»Ich lasse von mir hören.«
»Ich rechne fest damit. Meistens bin ich in Göteborg zu erreichen – wenn ich nicht gerade auf Reisen bin.«
Wallander fuhr zu einem Imbißstand in der Nähe von Jägersro und aß eine Kleinigkeit. Unablässig dachte er an Lisbeth Norins Bericht, und er versuchte, Alfred Harderberg ins Bild zu bringen, doch es gelang ihm nicht.
|283| Plötzlich fragte er sich, ob es überhaupt eine Lösung gab für das Rätsel, warum die beiden Anwälte getötet worden waren. In all seinen Jahren als Polizist hatte er nicht erleben müssen, daß ein Mord unaufgeklärt blieb. Vielleicht stand er diesmal vor einer Tür, die sich nie öffnen würde.
Er fuhr durch den Herbstabend auf Ystad zu und fühlte, wie die Erschöpfung Besitz von ihm ergriff. Linda würde er noch anrufen an diesem Abend, dann aber schlafen gehen.
Als er seine Wohnung betrat, merkte er sofort, daß sich seit dem Morgen etwas verändert hatte. Aufmerksam lauschend blieb er im Korridor stehen. War es nur Einbildung? Aber das Gefühl wollte nicht weichen. Er machte Licht im Wohnzimmer, setzte sich und schaute sich um. Nichts war gestohlen, nichts verändert. Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Das ungemachte Bett war so, wie er es verlassen hatte. Vor dem Wecker auf dem Nachttisch stand die halb geleerte Kaffeetasse. Er betrat die Küche. Wieder dachte er, daß es vielleicht nur Einbildung war.
Erst als er den Kühlschrank aufmachte, um die Margarine und ein Stück Käse herauszunehmen, merkte er, daß ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte.
Er betrachtete die geöffnete Wurstpackung. Für Details hatte er ein nahezu fotografisches Gedächtnis. Er wußte, daß er sie in das dritte der vier Fächer gelegt hatte.
Nun lag sie im zweiten Fach.
Jemand hatte den Kühlschrank geöffnet, dabei könnte die Wurst herausgefallen sein; das war ihm selbst schon passiert. Dann hatte dieser Jemand die Packung wieder hineingelegt – aus Versehen ins falsche Fach.
Er zweifelte nicht daran.
Jemand war tagsüber in seiner Wohnung gewesen und hatte den Kühlschrank aufgemacht, um nach etwas zu suchen oder um etwas zu verstecken.
Zuerst kam ihm das Ganze lächerlich vor.
Dann schloß er die Kühlschranktür und verließ die Wohnung.
Er hatte Angst.
|284| Sie sind in der Nähe, sagte er sich.
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