Wallander 04 - Der Mann, der lächelte
Wesen. Gesichtslose Menschen in schönem Ambiente.
Kurz vor Tomelilla überfuhr er einen Hasen, der im Scheinwerferlicht vorbeiwirbelte. Er hielt an und stieg aus. Der Hase lag auf der Straße und zappelte mit den Hinterläufen. Wallander suchte auf dem Randstreifen nach einem Stein. Als er zurückkam, war der Hase tot. Er schob ihn mit der Schuhspitze von der Fahrbahn. Die kräftigen Windböen rissen ihm fast die Autotür aus der Hand, als er wieder in den Wagen stieg. In Tomelilla parkte er vor einem Café. Er bestellte ein Sandwich und ein Kännchen Kaffee. Es war Viertel vor sechs. Auf einem Notizblock notierte er ein paar Fragen als Gerüst für das bevorstehende Gespräch. Er merkte, wie gespannt er auf die Begegnung war. Gleichzeitig kam es ihm absurd vor, darauf zu hoffen, einen Mörder zu treffen.
Er blieb fast eine Stunde im Café, füllte seine Tasse mehrmals nach und ließ die Gedanken schweifen. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er an Rydberg dachte. Es fiel ihm für einen Moment schwer, sich das Gesicht des alten Kollegen vorzustellen. Wenn ich Rydberg verliere, verliere ich meinen einzigen wirklichen Freund, ob tot oder nicht, dachte er.
Er zahlte und ging. Vor dem Lokal lag ein Schild, das der Wind heruntergerissen hatte. Autos fuhren vorbei, doch er sah keine Menschen. Ein richtiger Novembersturm. Der Winter kündigte sich mit Macht an.
Fünf vor halb acht erreichte er das Schloßtor. Er hatte erwartet, hier Kurt Ström zu treffen, doch niemand zeigte sich. Der dunkle Bunker wirkte verlassen. Lautlos öffnete sich das Tor. Er fuhr zum Schloß hinauf. Starke Scheinwerfer beleuchteten die Fassade und den Park wie Theaterkulissen. Ein Bild von der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst.
Er hielt an der Freitreppe und stellte den Motor ab. Als er |237| aus dem Wagen stieg, öffnete sich das Portal. Eine Sturmbö ließ ihn eine Stufe verfehlen; er strauchelte und verlor seinen Notizblock, der davonflog. Wallander schüttelte den Kopf und wandte sich dem Eingang zu. Eine Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren mit kurzgeschnittenem, fast stoppeligem Haar erwartete ihn.
»War es wichtig?« fragte sie.
Wallander erkannte ihre Stimme. »Nein, nur ein Notizblock.«
»Wir schicken natürlich Leute aus, die danach suchen werden«, sagte Jenny Lind.
Wallander betrachtete ihre schweren Ohrringe und die blauen Strähnen in ihren schwarzen Haaren.
»Nicht nötig, er war noch fast leer.«
Sie ließ ihn ein, und die Tür schloß sich lautlos hinter ihnen.
»Wollten Sie nicht mit einem Begleiter kommen?«
»Es hat sich nicht ergeben.«
Im selben Moment entdeckte Wallander zwei Männer reglos im Schatten neben der Treppe, die in die oberen Stockwerke des Gebäudes führte. Er erinnerte sich an die Schatten, die ihm bei seinem ersten Besuch auf Schloß Farnholm aufgefallen waren. Die Gesichter der Männer konnte er nicht erkennen. Für einen Augenblick zweifelte er, ob sie wirklich lebendig waren oder ob es sich um leere Rüstungen handelte.
»Doktor Harderberg kommt sofort«, sagte Jenny Lind. »Sie können in der Bibliothek auf ihn warten.«
Sie führte ihn zu einer Tür, die nach links von der großen Empfangshalle abging. Wallander hörte seine Schritte auf dem Steinboden und wunderte sich, wie es der Frau gelang, sich so lautlos zu bewegen. Verwundert stellte er fest, daß sie barfuß war.
»Ist das nicht kalt?« fragte er und schaute auf ihre Füße.
»Fußbodenheizung«, antwortete sie knapp und ließ ihm den Vortritt in die Bibliothek.
»Wir werden die Papiere suchen, die der Wind fortgerissen hat«, sagte sie noch einmal und schloß die Tür.
Wallander befand sich in einem großen ovalen Raum. |238| Rundum zierten Bücherregale die Wände. In der Mitte stand eine lederbezogene Sitzgruppe mit einem Serviertischchen. Das Licht war gedämpft. Im Unterschied zur Empfangshalle bedeckten orientalische Teppiche den Fußboden. Wallander stand regungslos und lauschte. Er wunderte sich, daß er den Sturm nicht hörte, der draußen tobte. Dann wurde ihm klar, daß der Raum schallisoliert war. Hier hatte sich Gustaf Torstensson am letzten Abend seines Lebens aufgehalten. Hier hatte er seinen Arbeitgeber und einige unbekannte Männer getroffen. Von hier war er anschließend zu seinem Wagen gegangen, jedoch nie in Ystad angekommen.
Hinter einem Pfeiler bemerkte Wallander ein großes Aquarium, in dem seltene Fische schwammen. Tatsächlich, der Sand glitzerte. Aber ob es Gold war, konnte er nicht
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