Wallander 05 - Die falsche Fährte
Auf dem Weg in Bordelle in Südeuropa. In die ehemaligen Oststaaten. Wir haben tatsächlich dann und wann ein paar Mädchen gefunden, die fliehen konnten. Aber die Hintermänner in diesem Handel haben wir nie gefaßt. Wir haben auch nie etwas beweisen können. Aber wir glauben, was wir glauben.«
Wallander starrte ihn an. »Und das sagst du mir erst jetzt?«
Sjösten schüttelte verständnislos den Kopf. »Du hast doch bis jetzt nie danach gefragt.«
Wallander stand reglos. Das brennende Mädchen lief wieder durch seinen Kopf.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er. »Ich bleibe über Nacht hier.«
Es war fünf Uhr. Noch immer Mittwoch, der 6. Juli.
Sie nahmen den Aufzug zurück in Sjöstens Büro.
|399| 33
Um kurz nach sieben nahmen Wallander und Sjösten die Fähre und fuhren durch den warmen Sommerabend hinüber nach Helsingör, wo sie in einem Restaurant, das Sjösten kannte, zu Abend aßen. Als bestände eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen, erzählte Sjösten Wallander während des Essens Geschichten von dem Boot, das er wieder herrichtete, von seinen zahlreichen Ehen und noch zahlreicheren Kindern. Erst beim Kaffee sprachen sie wieder über die Ermittlung. Dankbar hatte Wallander Sjösten zugehört, der mitreißend erzählen konnte. Er war sehr müde, und nach dem reichhaltigen Abendessen fühlte er sich schläfrig. Doch sein Kopf war ausgeruht. Sjösten hatte ein paar Schnäpse und Bier getrunken, während Wallander sich an Mineralwasser hielt. Als der Kaffee kam, tauschten sie die Rollen. Sjösten hörte zu, Wallander redete. Er rollte die ganze Geschichte noch einmal auf, und zum erstenmal wählte er die Geschichte von dem Mädchen, das sich im Rapsfeld verbrannt hatte, als Einleitung zu der Serie von Morden, von der sie noch nicht wußten, ob sie abgeschlossen war. Seine Art und Weise, Sjösten die Geschichte zu erzählen, zwang ihn dazu, auch für sich selbst Dinge zu klären. Hatte er es bisher für vollkommen unwahrscheinlich gehalten, daß der Tod von Dolores Maria Santana in einem Zusammenhang stand mit dem, was nachher geschehen war, so sah er jetzt ein, daß es sich um eine falsche Schlußfolgerung handelte, oder wahrscheinlich nicht einmal um eine Schlußfolgerung, sondern lediglich um unverantwortliche Denkfaulheit. Sjösten war ein aufmerksamer Zuhörer, der sofort nachhakte, wenn er undeutlich wurde.
Später sollte er sich an den Abend in Helsingör als an den Wendepunkt der ganzen Ermittlung erinnern. Das Muster, das er auf der Bank der Seenotrettung entdeckt zu haben glaubte, wurde bestätigt. |400| Lücken wurden ausgefüllt, Fragen beantwortet oder zumindest deutlicher formuliert und in einen Zusammenhang eingeordnet. Er marschierte durch die Landschaft ihrer Ermittlung vor und zurück und hatte zum erstenmal das Gefühl, sie wirklich zu überschauen. Doch gleichzeitig spürte er ein nagendes Schuldgefühl, dies alles nicht schon viel früher erkannt zu haben; er war mit unbegreiflicher Zielbewußtheit einer falschen Fährte gefolgt, statt einzusehen, daß er eine ganz andere Richtung einschlagen mußte. Er sprach die Frage nicht aus, aber sie rumorte in seinem Inneren. Hätte einer der Morde, zumindest der letzte, der an Liljegren, verhindert werden können? Die Frage war nicht zu beantworten, und er wußte, sie würde ihn noch lange verfolgen, vielleicht ohne daß er jemals eine Antwort bekam, die er verstehen und mit der er leben konnte.
Aber dem Täter waren sie dennoch nicht näher gekommen, es gab keine direkten Spuren, die in eine bestimmte Richtung wiesen. Es gab keinen Verdächtigen, nicht einmal eine Gruppe von Menschen, in die sie ihren Kescher versenken konnten in der Hoffnung, den Gesuchten herauszufischen.
Am Nachmittag, als Elisabeth Carlén sie verlassen und Sjösten auf der Treppe des Polizeipräsidiums in einem Nebensatz die Gerüchte erwähnt hatte, denen zufolge Schweden, und speziell Helsingborg, als Drehscheibe für den Mädchenhandel von Südamerika in südeuropäische Länder diente, hatte Wallander unverzüglich reagiert. Sie waren in Sjöstens Büro zurückgekehrt, in dem noch der Geruch von Elisabeth Carléns Zigaretten hing, obwohl das Fenster geöffnet war. Sjösten war verblüfft gewesen über Wallanders plötzlichen Energieschub, und ohne daß sie darüber nachdachten, hatte sich Wallander auf Sjöstens Stuhl gesetzt, während dieser sich damit abfinden mußte, in seinem eigenen Zimmer zu Besuch zu sein. Als Wallander ihm
Weitere Kostenlose Bücher