Wallander 05 - Die falsche Fährte
Küstenradio mithören?«
Daran hatte Wallander in der Eile nicht gedacht.
»Ein Mobiltelefon wäre besser. Frag ihn, ob sie eins an Bord haben.«
»Das habe ich schon getan. Es handelt sich offenbar um Menschen, die der Meinung sind, man sollte ohne Mobiltelefon Urlaub machen.«
»Dann sollen sie an Land gehen, und von dort aus anrufen.«
»Was stellst du dir vor, wie lange das dauert?« sagte Birgersson. »Weißt du, wo Hävringe liegt? Es ist mitten in der Nacht. Sollen sie etwa jetzt Segel setzen?«
»Mir ist scheißegal, wo Hävringe liegt«, sagte Wallander. »Außerdem segeln sie vielleicht die Nacht durch und liegen gar nicht vor Anker. Vielleicht hat jemand auf einem Boot in der Nähe ein Mobiltelefon. Sag nur, daß ich innerhalb einer Stunde mit ihnen Kontakt haben will. Mit ihr. Nicht mit ihm.«
Birgersson schüttelte den Kopf. Dann begann er wieder, ins Telefon zu rufen.
Genau dreißig Minuten später rief Agneta Malmström von einem Mobiltelefon aus an, das sie von einem entgegenkommenden Boot geliehen hatten. Wallander vergeudete keine Zeit mit Entschuldigungen für die Störung. Er kam direkt zur Sache.
|472| »Erinnerst du dich an das Mädchen, das sich verbrannt hat?« fragte er. »In einem Rapsfeld vor ein paar Wochen?«
»Natürlich erinnere ich mich.«
»Weißt du noch, daß wir uns damals am Telefon unterhalten haben? Ich habe dich gefragt, wie junge Menschen sich selbst so etwas antun könnten. Welche Worte ich genau benutzt habe, weiß ich nicht mehr.«
»Ich erinnere mich vage«, sagte sie.
»Du hast mir damals mit einem Beispiel geantwortet, das du gerade vorher erlebt hattest. Du sprachst von einem Jungen, einem kleinen Jungen, der solche Angst vor seinem Vater hatte, daß er versuchte, sich selbst die Augen auszustechen.«
»Ja. Daran kann ich mich erinnern. Aber das hatte ich nicht selbst erlebt. Das hat mir ein Kollege erzählt.«
»Wer denn?«
»Mein Mann. Er ist auch Arzt.«
»Dann muß ich mit ihm sprechen. Hol ihn ans Telefon.«
»Das wird dauern. Ich muß mit der Jolle hinüberrudern und ihn holen. Wir liegen ein Stück von hier vor Treibanker.«
Erst jetzt entschuldigte sich Wallander für die Störung.
»Es dauert eine Weile«, sagte sie.
»Wo zum Teufel liegt eigentlich Hävringe?« fragte Wallander.
»Mitten im Meer«, erwiderte sie. »Es ist wunderschön da. Aber wir machen gerade einen Nachttörn nach Süden. Allerdings haben wir wenig Wind.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis es wieder klingelte. Karl Malmström war am Telefon. In der Zwischenzeit hatte Wallander herausgefunden, daß er Kinderarzt in Malmö war. Wallander kehrte zu dem Gespräch zurück, das er mit Malmströms Frau geführt hatte.
»Ich erinnere mich an den Fall«, sagte Malmström.
»Können Sie sich so auf Anhieb an den Namen dieses Jungen erinnern?«
»Ja. Aber ich kann ihn nicht so einfach in ein Mobiltelefon rufen.«
Wallander sah das ein. Er dachte fieberhaft nach. »Wir machen es so«, sagte er schließlich. »Ich stelle Ihnen eine Frage, auf die Sie |473| mit ja oder nein antworten können, ohne einen Namen zu nennen.«
»Wir können es ja versuchen«, antwortete Karl Malmström.
»Hat der Name mit Bellman zu tun?« fragte Wallander.
Karl Malmström verstand. Seine Antwort kam ohne Zögern. »Ja«, sagte er. »Allerdings.« 1*
»Dann danke ich für die Hilfe«, sagte Wallander. »Ich hoffe, ich brauche Sie nicht mehr zu stören. Schönen Sommer noch.«
Karl Malmström schien nicht verärgert zu sein.
»Man fühlt sich sicher, wenn Polizisten hart arbeiten«, sagte er nur.
Das Gespräch war zu Ende. Wallander reichte Birgersson den Hörer zurück.
»Wir machen in einer Viertelstunde eine Besprechung«, sagte er. »Ich brauche nur ein paar Minuten zum Nachdenken.«
»Setz dich in mein Zimmer«, sagte Birgersson. »Das ist gerade frei.«
Wallander fühlte sich auf einmal sehr müde. Der Widerwille lag ihm wie ein bohrender Schmerz im ganzen Körper. Er wollte noch immer nicht wahrhaben, daß es sich tatsächlich so verhielt, wie er dachte. Lange hatte er gegen seine Einsicht gekämpft. Jetzt ging es nicht mehr. Das Bild, das sich abzeichnete, war unerträglich. Die schreckliche Angst eines kleinen Jungen vor seinem Vater. Ein großer Bruder in der Nähe. Der aus Rache dem Vater Salzsäure in die Augen schüttet. Der sich auf einen wahnsinnigen Vergeltungszug für seine Schwester begibt, die in der einen oder anderen Weise mißbraucht worden ist. Alles war plötzlich ganz
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