Wallander 05 - Die falsche Fährte
erinnert sich an nichts mehr, was nach 1960 passiert ist. Alt zu werden ist wirklich nur beschissen.«
Wallander horchte auf. Hugo Sandin wiederholte beinah wörtlich, was Ebba erst kürzlich gesagt hatte. Da wenigstens lag ein Unterschied zu seinem Vater, der sich über sein Alter wenig oder nie beklagte.
In einem alten Wagenschuppen, der zu einem Ausstellungsraum für die Produkte der Keramikwerkstatt umgebaut war, stand ein Tisch mit einer Thermoskanne und Tassen. Aus reiner Höflichkeit betrachtete Wallander ein paar Minuten lang die ausgestellte Keramik. Hugo Sandin hatte sich an den Tisch gesetzt und schenkte Kaffee ein.
»Du bist der erste Polizist, den ich treffe, der sich für Keramik interessiert«, bemerkte er ironisch.
Wallander setzte sich. »Eigentlich bin ich auch nicht besonders interessiert«, gestand er.
»Polizisten lieben das Angeln«, sagte Hugo Sandin. »An einsamen, entlegenen Fjällseen. Oder tief in den småländischen Wäldern.«
»Das wußte ich nicht«, meinte Wallander. »Ich angle nie.«
Sandin betrachtete ihn aufmerksam. »Und was tust du, wenn du nicht arbeitest?«
»Es fällt mir ziemlich schwer abzuschalten.«
Sandin nickte zustimmend. »Polizist zu sein ist eine Berufung«, sagte er. »Genau wie Arzt zu sein. Wir sind ständig im Dienst. Ob wir in Uniform sind oder nicht.«
Wallander zog es vor, sich nicht auf eine Diskussion einzulassen, obwohl er mit Hugo Sandins Ansicht, der Polizistenberuf sei eine Berufung, ganz und gar nicht übereinstimmte. Früher hatte er wohl auch einmal daran geglaubt. Aber jetzt nicht mehr. Zumindest hatte er seine Zweifel.
|214| »Erzähle«, sagte Hugo Sandin. »Ich habe in den Zeitungen gelesen, was in Ystad los ist. Erzähle, was nicht da steht.«
Wallander berichtete über die Begleitumstände der beiden Morde. Ein paarmal unterbrach Hugo Sandin ihn mit Fragen, die alle Sinn machten.
»Es ist mit anderen Worten wahrscheinlich, daß er wieder töten kann«, sagte er, nachdem Wallander verstummt war.
»Zumindest können wir es nicht ausschließen.«
Hugo Sandin schob den Stuhl ein bißchen vom Tisch zurück, um die Beine ausstrecken zu können. »Und jetzt soll ich dir etwas über Gustaf Wetterstedt erzählen«, sagte er. »Das tu ich gern. Aber darf ich zuerst fragen, woher du erfahren hast, daß ich ihm vor vielen Jahren meine ganz spezielle und kritische Aufmerksamkeit gewidmet habe?«
»Ein Journalist in Ystad, leider stark alkoholisiert, hat es mir erzählt. Er heißt Lars Magnusson.«
»Der Name sagt mir nichts.«
»Auf jeden Fall hat er davon gewußt.«
Hugo Sandin schwieg eine Weile und strich sich mit dem Finger über die Lippen, als suche er nach einem geeigneten Anfang.
»Die Wahrheit über Gustaf Wetterstedt kann man ganz einfach zusammenfassen«, begann er. »Er war ein Lump. Als Justizminister war er möglicherweise formal kompetent. Aber er war ungeeignet.«
»Warum?«
»Seine politische Aktivität war mehr von der Sorge um seine persönliche Karriere als der um das Wohl des Landes geprägt. Das ist das absolut schlechteste Zeugnis, das man einem Minister ausstellen kann.«
»Und trotzdem wurde er als möglicher Parteivorsitzender gehandelt?«
Hugo Sandin schüttelte energisch den Kopf. »Das stimmt nicht«, sagte er. »Das waren Spekulationen in den Zeitungen. Parteiintern war es klar, daß er nie Vorsitzender werden würde. Es ist sogar fraglich, ob er je Mitglied war.«
»Aber er war doch viele Jahre lang Justizminister. Vollkommen untauglich kann er demnach nicht gewesen sein.«
|215| »Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern. Aber irgendwo in den fünfziger Jahren verläuft eine Grenze. Sie ist unsichtbar, aber sie ist da. Schweden befand sich in einem fast unfaßbaren Aufwind. Es gab unbegrenzte Mittel, um die letzten Reste der Armut zuzubauen. Gleichzeitig vollzog sich eine unsichtbare Veränderung im politischen Leben. Die Politiker wurden Berufspolitiker. Karrieristen. Vorher galt Idealismus als ein wesentlicher Bestandteil des politischen Lebens. Jetzt begann dieser Idealismus sich zu verflüchtigen. Leute wie Gustaf Wetterstedt betraten die Bühne. Die politischen Jugendverbände waren Brutanstalten für die Politiker der Zukunft.«
»Laß uns doch bitte von den Skandalen sprechen, die ihn umgaben«, bat Wallander, der ernsthaft fürchtete, Hugo Sandin könnte sich noch länger in Erinnerungsbildern politischer Empörung verlieren.
»Er hielt sich Prostituierte«, sagte Hugo Sandin. »Womit er
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