Wallander 05 - Die falsche Fährte
Vertäuungen schaukelten, und dachte über die beiden Gespräche nach, die er im Laufe des Tages geführt hatte.
Ein Mädchen namens Dolores Maria Santana hatte eines Abends an der Stadtausfahrt von Helsingborg gestanden und einen Wagen angehalten. Sie sprach kein Schwedisch und hatte Angst vor überholenden Autos. Soweit sie bisher herausfinden konnten, war sie in der Dominikanischen Republik geboren.
Er betrachtete ein altes, gutgepflegtes Holzboot, während er die entscheidenden Fragen formulierte.
Warum und wie war sie nach Schweden gekommen? Wovor war sie auf der Flucht gewesen? Warum hatte sie sich in Salomonssons Rapsfeld verbrannt?
Er ging weiter auf die Pier hinaus.
Auf einem Segelboot war ein Fest im Gange. Jemand hob ein Glas und prostete Wallander zu. Er nickte zurück und formte eine Hand zu einem Glas.
Am Ende der Pier setzte er sich auf einen Poller und ließ in seinem Kopf noch einmal das Gespräch mit Hugo Sandin Revue passieren. Noch immer kam ihm alles wie ein verworrenes Knäuel vor. Er sah keinen Ansatzpunkt, keine Spur, die zu einem Durchbruch führen konnte.
Gleichzeitig war die Angst da. Er wurde sie nicht los. Daß es wieder passieren würde.
Es war kurz vor neun. Er warf eine Handvoll Kies ins Wasser und stand auf. Auf dem Segelboot wurde weitergefeiert. Er ging durch die Stadt zurück. Der Haufen mit schmutziger Wäsche lag noch immer auf dem Fußboden. Er schrieb sich selbst einen Zettel und legte ihn auf den Tisch.
Wagen zur Überprüfung, verdammt.
Dann schaltete er den Fernseher ein und legte sich aufs Sofa.
|221| Um zehn rief er Baiba an. Er hörte ihre Stimme sehr deutlich und nah.
»Du klingst müde«, sagte sie. »Hast du viel zu tun?«
»Nicht so schlimm«, antwortete er ausweichend. »Aber du fehlst mir.«
Er hörte sie lachen. »Wir sehen uns ja bald«, sagte sie.
»Was hast du eigentlich in Tallinn gemacht?«
Sie lachte wieder. »Einen anderen Mann getroffen. Was hast du denn gedacht?«
»Genau das.«
»Du mußt schlafen«, meinte sie. »Das höre ich bis hierher nach Riga. Es läuft ja gut für Schweden bei der Fußball-WM, soviel ich mitbekommen habe.«
»Interessierst du dich für Sport?« fragte er erstaunt.
»Manchmal. Besonders wenn Lettland spielt.«
»Hier sind die Leute völlig aus dem Häuschen.«
»Aber du nicht?«
»Ich verspreche, mich zu bessern. Wenn Schweden gegen Brasilien spielt, werde ich versuchen, wach zu bleiben und mir das Spiel anzusehen.«
Er hörte sie wieder lachen.
Er wollte gern noch etwas sagen. Aber es fiel ihm nichts ein. Als das Gespräch beendet war, wandte er sich wieder dem Fernsehen zu. Eine Weile versuchte er, einem Film zu folgen, dann schaltete er aus und ging ins Bett.
Vor dem Einschlafen dachte er an seinen Vater.
Im Herbst würden sie nach Italien fahren.
|222| 19
Die Leuchtzeiger der Uhr waren wie zwei krampfhaft ineinander verschlungene Schlangen geformt. Sie zeigten zehn Minuten vor sieben. Es war Dienstagabend, der 28. Juni. In ein paar Stunden würde Schweden gegen Brasilien spielen. Auch das hatte er in seinem Plan berücksichtigt. Alle würden drinnen sitzen und auf die Fernsehschirme starren. Niemand würde daran denken, was draußen in der Sommernacht geschah. Der Kellerfußboden war kalt unter seinen Füßen. Seit dem frühen Vormittag hatte er vor seinen Spiegeln gesessen. Schon vor mehreren Stunden hatte er die große Verwandlung abgeschlossen. Diesmal hatte er das Muster auf der rechten Wange verändert. Er hatte das kreisförmige Ornament mit der blauen Farbe gemalt, die zu schwarz tendierte. Früher hatte er die blutrote Farbe verwendet. Er war mit der Veränderung zufrieden. Sein ganzes Gesicht hatte noch mehr Tiefe bekommen, wirkte noch erschreckender. Er legte den letzten Pinsel fort und dachte an die Aufgabe, die ihn an diesem Abend erwartete. Es war das größte Opfer, das er bisher für seine Schwester darbrachte. Auch wenn er seine Pläne hatte ändern müssen. Die neue Situation war unerwartet. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, die bösen Kräfte, die um ihn her wirksam waren, hätten die Oberhand gewonnen. Um Klarheit darüber zu bekommen, wie er der neuen Situation begegnen sollte, hatte er eine ganze Nacht im Schatten unter dem Fenster seiner Schwester zugebracht. Er hatte zwischen den beiden Skalpen gesessen, die er dort vergraben hatte, und darauf gewartet, daß die Kraft aus der Erde in ihn eindrang. Im Licht seiner Taschenlampe hatte er in dem heiligen Buch, das
Weitere Kostenlose Bücher