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Wallander 07 - Mittsommermord

Wallander 07 - Mittsommermord

Titel: Wallander 07 - Mittsommermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Anspruch genommen hätte als berechnet. Jetzt machte es ihm nichts mehr aus. Die große Verwandlung, die er durchlebt hatte, beinhaltete unter anderem, daß er sich für die Zeit unverletzbar gemacht hatte. Er hatte eingesehen, daß es nichts gab, was Vergangenheit hieß. Und Zukunft ebensowenig. Es gab also keine Zeit, die man verlieren konnte. Oder über die man verfügte. Das einzige, was zählte, war das, was man tat.
     
    Er stellte die Posttasche und die Kasse fort. Danach duschte er und zog sich um. Seit er am frühen Morgen zur Post gefahren war, um seine Briefe zu sortieren, hatte er nichts gegessen. Aber er verspürte keinen Hunger.
     
    Er konnte sich seit seiner Kindheit an das Gefühl erinnern. Wenn etwas Spannendes bevorstand, verlor er stets den Appetit.
     
    Er ging in den schallisolierten Raum und knipste alle Lichter an. Das Bett hatte er sorgfältig gemacht, bevor er am Morgen die Wohnung verlassen hatte. Jetzt legte er die Briefe auf den dunkelblauen Bettüberwurf. Er setzte sich im Schneidersitz mitten aufs Bett. Er hatte die Briefe bereits gelesen. Das war der erste Schritt. Briefe auszuwählen, die ihn lockten. Sie vorsichtig zu öffnen, ohne daß der Umschlag beschädigt wurde. Sie dann zu kopieren. |343| Und anschließend zu lesen. Wie viele Briefe er im letzten Jahr geöffnet, kopiert und gelesen hatte, wußte er nicht. Aber es waren bestimmt an die zweihundert. Die meisten waren bedeutungslos. Nichtssagend und langweilig. Bis er den ersten Brief von Lena Norman an Martin Boge geöffnet hatte.
    Er unterbrach seinen Gedankengang. Das war vorbei. Daran brauchte er nicht mehr zu denken. Die letzte Phase war mühsam und ermüdend gewesen. Erst die lange Autofahrt hinauf nach Östergötland. Danach mit einer Taschenlampe herumschleichen, bis er ein Boot gefunden hatte, das groß genug war, um zu der kleinen Insel mitten in der Bucht hinauszufahren.
    Es war anstrengend gewesen. Und Anstrengungen mochte er nicht. Anstrengungen bedeuteten Widerstand. Etwas, dem er am liebsten aus dem Weg ging.
     
    Der Gedanke, ein Paar zu wählen, das heiraten wollte, war ihm erst im Mai gekommen. Es war reiner Zufall. Wie so vieles andere in seinem Leben. In den Jahren seines früheren Lebens, in denen er Ingenieur gewesen war, hatte der Zufall nie eine Rolle spielen dürfen. Er war aus seinem Dasein verbannt gewesen. Jetzt war das anders. Der Zufall begegnete dem Menschen im Leben als ein steter Strom unerwarteter Angebote. Er konnte auswählen, was er annehmen wollte. Oder es an sich vorbeiziehen lassen.
     
    Die kleine Klammer, die am Briefkasten steckte als Zeichen dafür, daß jemand mit ihm sprechen wollte, hatte nichts verraten. Doch als er anklopfte und in die Küche trat, lagen dort über einhundert Umschläge mit Einladungen zu einer Hochzeit. Die Frau, die ihn hereingebeten hatte, wollte heiraten. Er erinnerte sich nicht mehr an ihren Namen. Aber er erinnerte sich an ihre Freude, und die hatte ihn rasend gemacht. Er hatte die Briefe mitgenommen und aufgegeben. Hätte er damals nicht bis über beide Ohren in den komplizierten Vorbereitungen für seine Teilnahme an einem Mittsommerfest gesteckt, hätte er sich vielleicht mit der Hochzeit befaßt, für die jene Einladungen gedacht waren.
    Aber die Zufälle, die ihm begegneten, lieferten ihm ständig neue Angebote. Alle sechs Umschläge enthielten Hochzeitseinladungen. |344| Er hatte ihre Briefe gelesen. Die Paare, die heiraten wollten, kennengelernt. Er wußte, wo sie wohnten, wie sie aussahen und wo sie heiraten wollten. Die Einladungen waren ganz formelle Karten. Sie waren nur dazu da, ihn an die verschiedenen Brautpaare zu erinnern.
    Jetzt würde er den wichtigsten Schritt tun.
    Für sich entscheiden, welches von diesen Paaren das glücklichste war.
    Er ging die Umschläge durch. Einen nach dem anderen. Rief sich das Aussehen der Personen ins Gedächtnis, andere Briefe, die sie geschrieben hatten, aneinander oder an Freunde. Er zögerte seine Entscheidung so lange wie möglich hinaus. Genoß das grenzenlose Glücksgefühl.
     
    Er herrschte. In diesem schallisolierten Raum war er allem entkommen, was ihn früher in seinem Leben gequält hatte. Das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Mißverstanden zu werden. Hier drinnen war er auch in der Lage, an die große Katastrophe zu denken. Als er ausgeschlossen, für überflüssig erklärt worden war.
    Nichts war mehr schwer. Oder beinah nichts. Noch immer konnte er die Erinnerung daran nicht ertragen, wie er

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