Wallander 07 - Mittsommermord
sich über mehr als zwei Jahre erniedrigt hatte. Auf Annoncen geantwortet, seine Zeugnisse eingesandt hatte, zu einer endlosen Zahl von Bewerbungsgesprächen angetreten war.
Das war, bevor er sich mit einem einzigen Schlag befreit hatte. Alles, was früher gewesen war, hinter sich gelassen hatte. Ein anderer geworden war.
Er wußte, daß er Glück gehabt hatte. Heute würde er als Aushilfsbriefträger nie ankommen. Überall Einstellungsstopp. Menschen wurden entlassen. Er hatte es gemerkt, wenn er auf den Routen der verschiedenen Landbriefträger fuhr, für die er einsprang. Menschen saßen in ihren Häusern und warteten auf Briefe. Immer mehr gehörten nicht länger dazu. Und sie hatten nicht gelernt, daß man entkommen konnte. Indem man ausbrach.
|345| Schließlich entschied er sich für das Paar, das am Samstag, dem 17. August, heiraten wollte. Bei sich zu Hause in der Nähe von Köpingebro. Es würden viele Gäste kommen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie viele Einladungskarten er mitgenommen hatte. Aber sie waren beide dagewesen, als er durch die Tür trat. Ihr Glück war grenzenlos gewesen. Damals war es ihm schwergefallen, nicht die Kontrolle zu verlieren. Er hätte sie dort auf der Stelle töten können. Aber wie gewöhnlich hatte er sich beherrscht. Er hatte sie beglückwünscht. Niemand hatte merken können, was er eigentlich dachte.
Das war die wichtigste Kunst im Leben. Die Kunst, sich zu beherrschen.
Es würde ein denkwürdiger Tag werden. Genau wie der Tag vor Mittsommer.
Und niemand begriff. Niemand ahnte. Wieder einmal hatte er gezeigt, wie wichtig es war, entkommen zu können.
Er legte die Briefe beiseite und streckte sich auf dem Bett aus. Dachte auch an all die Briefe, die Menschen jetzt gerade schrieben. Briefe, die in seine Hände gelangen würden, wenn er die Briefkästen leerte. Und die er dann vielleicht auswählen, öffnen und lesen würde.
Die Flut der Zufälle würde ihm weiterhin entgegenströmen.
Und er brauchte nichts anderes zu tun als zuzugreifen.
***
Am Freitagmorgen begann Wallander ernsthaft damit, Svedbergs Leben unter die Lupe zu nehmen. Er war kurz nach sieben ins Präsidium gekommen und hatte sich mit einem Gefühl äußersten Unbehagens an die Arbeit gemacht. Er wußte nicht, wonach er suchte, nur daß es etwas war, was er brauchte. Irgendwo in Svedbergs Leben gab es einen Punkt, an dem er die Erklärung dafür finden würde, weshalb er getötet worden war.
Doch bevor er sich an die mühsame und unerfreuliche Reise durch Svedbergs Leben machte, klopfte er an Ann-Britt Höglunds Tür. Sie war bereits da. Er gab ihr den Text, den er in der Nacht geschrieben |346| hatte, und bat sie um einen Kommentar, wenn sie ihn in Ruhe durchgelesen hätte. Sie sollte ja die Rede halten, nicht er. Als er ihr Zimmer verließ, fiel ihm ein, daß er vielleicht mit ihr über Thurnberg hätte sprechen sollen, aber er ließ es auf sich beruhen. Sicher würde ihr ein anderer davon erzählen. Gerüchte verbreiteten sich rasch im Polizeipräsidium.
Als erstes rief er Ylva Brink an. Sie war gerade von der Nachtschicht im Krankenhaus nach Hause gekommen. Er fragte, ob sie erst einmal schlafen wolle, er könne auch zu einem späteren Zeitpunkt wieder anrufen. Doch sie war froh, daß er anrief. Sie schlafe schlecht, erzählte sie. Die Gedanken an das, was Svedberg zugestoßen war, machten ihr besonders in ihren Träumen zu schaffen. Sie hoffte, es würde besser, wenn in der nächsten Woche ihr Mann nach Hause käme. Aber nicht zur Beerdigung, das hatte sich nicht einrichten lassen.
»Wenn er hier ist, kann ich wieder schlafen«, sagte sie. »Ich fürchte mich, seit das mit Kalle passiert ist.«
Wallander erwiderte, er verstehe das. Dann bat er sie, von Svedbergs Leben zu erzählen. Von seinen Eltern und seiner Jugend. Eigentlich hätte er sie lieber vor sich gehabt, nicht am Telefon. Er überlegte sogar, ob er sie nicht bitten sollte, herüberzukommen. Sie konnten einen Wagen schicken, um sie zu holen. Doch er beließ es bei dem Telefongespräch. Die ganze Zeit über machte er sich Notizen, füllte Seite auf Seite seines Kollegblocks mit seiner schwer lesbaren Handschrift. Zweimal tauchte Martinsson in der Tür auf, einmal Nyberg. Das Gespräch dauerte fast eine Stunde. Wallander hörte konzentriert zu. Er unterbrach sie lediglich, wenn es ihm zu schnell ging oder wenn er kontrollieren wollte, ob er einen Namen richtig verstanden hatte. Während ihres Gesprächs
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