Wallander 07 - Mittsommermord
Blick begegnet. Was er darin zu sehen meinte, konnte Wallander sich nie wirklich klarmachen.
Aber er sollte den Augenblick nie vergessen.
Schließlich hatte es keine Fragen mehr gegeben. Wallander hatte mit dem Bild eines Mannes dagesessen, der wahnsinnig geworden war, der nie irgendwo hineingepaßt hatte und der am Schluß in einer Gewalt explodiert war, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Die Untersuchung seines Geisteszustands fügte diesem Bild weitere Züge hinzu. Ein geschundenes und zurückgesetztes Kind, das nie etwas anderes gelernt hatte als die Kunst, sich zu verstecken |597| und zu entkommen. Das nicht damit fertig geworden war, aus dem Ingenieurbüro geworfen worden zu sein. Und das daraufhin beschlossen hatte, lachende Menschen als schlechte Menschen zu betrachten.
Wallander war klargeworden, daß inmitten des Ganzen ein furchtbarer Schlagschatten aufragte, der drückend auf dem ganzen Land lastete. Immer mehr Menschen, die nicht gebraucht wurden, würden zu einer unwürdigen Existenz in erbarmungslosen Randzonen verurteilt sein. Dort würden sie stehen und auf jene starren, die auf der richtigen Seite gelandet waren, denen es vergönnt war, Grund zur Freude zu haben.
Wallander erinnerte sich an ein nicht abgeschlossenes Gespräch, das er bei einer Gelegenheit mit Ann-Britt Höglund geführt hatte. Sie hatten sich darüber unterhalten, daß der Zerfall der schwedischen Gesellschaft sehr viel weiter fortgeschritten war, als sie sich vielleicht klarmachten. Die irrationale und planlose Gewalt, die fast zu einem selbstverständlichen Teil des Alltags geworden war. Das Gefühl, daß sie sich bereits in einer Phase des Danach befanden, in der der Rechtsstaat auf vielen Gebieten aufgehört hatte zu funktionieren. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Wallander sich die Frage gestellt, ob nicht auch die schwedische Gesellschaft ganz und gar auseinanderbrechen könnte. An einem gewissen Punkt, wenn die Anzahl der Risse groß genug geworden war. Wie weit entfernt liegt eigentlich Bosnien? Hatte er gedacht. Vielleicht liegt es bedeutend näher, als wir angenommen haben. Diese Gedanken bewegten ihn die ganze Zeit, in der Larstam ihm gegenüber saß. Ein Mensch, der vielleicht nicht so unbegreiflich war, wie er hätte sein sollen. Ein Mensch, der zeigte, daß ein innerer Zusammenbruch mit einem äußeren verwoben sein konnte.
Am Ende hatte es nichts mehr zu sagen gegeben. Wallander hatte einen Schlußpunkt gesetzt, und Åke Larstam war abgeführt worden.
Einige Tage später hatte Eva Hillström Selbstmord begangen. Ann-Britt Höglund hatte es ihm erzählt. Wallander hatte schweigend zugehört. Dann hatte er das Polizeipräsidium verlassen, eine Flasche Whisky gekauft und sich betrunken.
|598| Doch er hatte das, was geschehen war, nie kommentiert. Nie davon gesprochen, was er empfunden hatte. Daß am Ende sie Åke Larstams neuntes und letztes Opfer geworden war.
Schließlich nahm er seine Jacke, stand auf und ging. Seine Reisetasche hatte er schon in den Kofferraum gestellt. Das Mobiltelefon nahm er mit. Doch er legte es auf die Rückbank und kontrollierte noch einmal, ob es auch ausgeschaltet war.
Es war zehn Minuten nach zehn, als er aus Ystad hinausfuhr. Er fuhr nach Kristianstad und von da weiter nach Kalmar.
Um zwei Uhr am Nachmittag hielt er vor dem Rasthaus außerhalb von Västervik. Er wußte, daß es während des Winterhalbjahres geschlossen war. Dennoch hatte er die vage Hoffnung, sie könne da sein. Im Verlauf des Herbstes hatte er viele Male daran gedacht, sie anzurufen. Aber es war nicht dazu gekommen. Er hatte nie ganz verstanden, was er eigentlich von ihr wollte. Er stieg aus. Der Wind und der Regen waren ihm von Schonen hier herauf gefolgt. Das Herbstlaub klebte am Boden. Alles war verbarrikadiert. Er ging um das Haus herum auf die Rückseite, zu dem Zimmer, in dem er auf dem Rückweg von Bärnsö geschlafen hatte. Obwohl es erst ein paar Monate zurücklag, kam es ihm beinah unwirklich vor.
Das verbarrikadierte Haus beunruhigte ihn.
Er ging zu seinem Wagen zurück und fuhr weiter. Dem Ziel seiner Reise entgegen. Er war noch immer nicht überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben.
In Valdemarsvik hielt er und kaufte eine Flasche Whisky.
Anschließend trank er Kaffee in einer Konditorei und aß ein paar belegte Brote. Er bestellte die Brote ohne Margarine. Als es fünf Uhr wurde und die Dunkelheit schon angebrochen war, fuhr er auf der kurvenreichen Straße an der
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