Wallander 09 - Der Feind im Schatten
unnötiger Streit auszubrechen drohte, und es gelang ihnen, sich zu beherrschen. Hans dagegen schien nichts bemerkt zu haben.
Wallander wandte sich ihm zu und sah die Ratlosigkeit in seinem Gesicht. »Fällt dir dabei irgendetwas ein?«, fragte er vorsichtig. »Immerhin bist du derjenige von uns, der sie am besten kannte.«
»Nein. Vor kurzem habe ich erfahren, dass ich eine Schwester habe. Und jetzt das. Es kommt mir so vor, als würden meine Eltern mir immer fremder. Ich halte das Fernglas falsch herum. Sie verschwinden.«
»Nichts, was dir in den Sinn kommt? Entlegene Erinnerungen? Etwas, was du aufgeschnappt hast? Menschen, die zu Besuch kamen?«
»Nein. Mir wird nur übel.«
Linda nahm seine Hand. Wallander stand auf und gingzum Kinderwagen unter dem Apfelbaum. Eine Hummel summte vor dem Mückennetz. Er hob es behutsam an und betrachtete das schlafende Bündel. Erinnerte sich an Linda in ihrem Wagen. Monas ständige Angst und seine eigene Freude über ein Kind.
Er kehrte zu seinem Platz zurück. »Sie schläft.«
»Mona hat erzählt, dass ich nachts geschrien hätte.«
»Das hast du. Meistens bin ich aufgestanden und habe dich beruhigt.«
»Monas Erinnerung ist eine andere.«
»Sie hat sich nie viel um die Wahrheit geschert. Sie glaubt, sich an etwas zu erinnern, was sie eigentlich vergessen hat. Ich habe dich nachts herumgetragen, während sie schlief. Es gab Nächte, da bekam ich kaum mehr als ein, zwei Stunden Schlaf. Und dann musste ich raus und zur Arbeit.«
»Klara weckt uns fast nie.«
»Das ist ein Segen. Es waren manchmal ziemlich schlimme Nächte mit dir und deinem Schreien.«
»Und du hast mich getragen?«
»Manchmal hatte ich Watte in den Ohren. Aber ich bin mit dir herumgewandert. Alles andere ist unwahr, was Mona auch sagen mag.«
Hans stellte die Kaffeetasse so heftig auf den Tisch, dass Kaffee überschwappte. Er schien ihr Gespräch gar nicht mitbekommen zu haben. »Wo ist Mama die ganze Zeit gewesen? Und wo ist Håkan?«
»Was glaubst du selbst? Was ist dein erster Gedanke? Jetzt, wo alles ganz anders aussieht?«
Linda hatte die Fragen gestellt. Wallander sah sie verwundert an. Er hatte genau diese Worte im Kopf formuliert. Aber sie war schneller gewesen.
»Ich habe keine Antwort. Etwas sagt mir, dass mein Vater lebt. Seltsamerweise bekomme ich im selben Augenblick, in dem ich erfahre, dass meine Mutter tot aufgefunden wurde, das starke Gefühl, dass er lebt.«
Wallander übernahm und stellte die nächsten Fragen. »Warum? Was bringt dich dazu, so zu denken?«
»Ich weiß nicht.«
Wallander hatte nicht damit gerechnet, dass Hans spontan besonders viel zu sagen hätte. Es war klar, dass die Distanz zwischen den Mitgliedern der Familie von Enke beträchtlich war.
Wallander hielt bei diesem Gedanken inne und sagte sich, dass dies auch ein Ansatzpunkt war. Was hatten die Eheleute von Enke voneinander gewusst? Hatte es zwischen ihnen ebenso viele Geheimnisse gegeben wie in den anderen Familienbeziehungen? Oder war es umgekehrt? Hatte zwischen Louise und Håkan von Enke ein sehr enges Verhältnis bestanden?
Er kam im Moment nicht weiter. Hans stand auf und ging ins Haus.
»Er muss in Kopenhagen anrufen«, sagte Linda. »Wir hatten uns gerade darauf geeinigt, als du kamst.«
»Worauf geeinigt?«
»Dass er heute zu Hause bleibt.«
»Hat der Mann nie frei?«
»Es herrscht weltweit große Unruhe an den Börsen. Hans macht sich Sorgen. Deshalb arbeitet er ständig.«
»Mit Isländern?«
Sie betrachtete ihn abwartend. »Meinst du das ironisch? Vergiss nicht, dass du vom Vater meines Kindes sprichst.«
»Als er mir sein Büro zeigte, saßen Isländer da. Warum sollte es ironisch sein, wenn ich davon spreche?«
Linda machte eine abwehrende Handbewegung. Hans kam zurück und setzte sich wieder in die Hollywoodschaukel. Sie sprachen eine Weile über Louises Beerdigung. Wallander konnte nicht sagen, wann der Leichnam von der Gerichtsmedizin freigegeben werden würde.
»Komisch«, sagte Hans. »Gestern habe ich einen dicken Umschlag mit Fotos von Håkans Geburtstagsfeier bekommen.Sie wurden von jemandem aufgenommen, der erst jetzt daran gedacht hat, sie zu schicken. Es sind mindestens hundert.«
»Möchtest du, dass wir sie uns ansehen?«, fragte Linda.
Hans antwortete mit einem Achselzucken. »Ich habe sie zu den Gästelisten und den anderen Papieren gelegt, die mit dem Fest zu tun haben. Vor allem sind es Kopien von Rechnungen.«
Wallander war in eigene Gedanken versunken und
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