Wallander 09 - Der Feind im Schatten
mit den beiden Männern geschehen war, über das Augenscheinliche hinaus, dass sie tot waren, erschossen und nicht ertrunken.
Wallander ging am Strand entlang, vertrieb nach der langen Bewegungslosigkeit die Steifheit aus den Gliedern. Er dachte an das, was Linda gesagt hatte. Aber Menschen begehen Selbstmord, ob wir es von ihnen glauben oder nicht,dachte er. Eine Reihe von Menschen, denen ich nie zugetraut hätte, sie würden ihrem Leben selbst ein Ende setzen, taten es ohne zu zögern, in den meisten Fällen nach sorgfältiger Planung. Wie oft war ich dabei, wenn Menschen von dem Strick losgemacht wurden, an dem sie sich erhängt hatten, wie oft habe ich die Reste zusammengeklaubt, nachdem sie sich mit der Schrotflinte in den Kopf geschossen hatten. Aber die Angehörigen, die erklärten, sie seien nicht erstaunt über den Selbstmord, kann ich an einer Hand abzählen.
Wallander dehnte seinen Spaziergang so weit aus, dass er müde war, als er wieder bei seinem Auto anlangte. Er setzte sich in den Wagen und öffnete eine der Plastiktüten. Er griff wahllos ein paar Fotos heraus. Viele Gesichter glaubte er wiederzuerkennen, an andere konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Er steckte die Fotos zurück und fuhr nach Hause. Wenn es einen Sinn haben sollte, musste er das Material gründlich durchgehen, nicht oberflächlich wie jetzt, hinter dem Lenkrad seines Wagens.
Erst gegen Abend setzte er sich an den Küchentisch. Hier werde ich anfangen, dachte er. Bei den Fotos von einem gut organisierten großen Familienfest mit einem Geburtstagskind und seiner Frau. Er sah sich ein Foto nach dem anderen an. Fast immer waren die Esstische im Hintergrund zu sehen, so dass er ungefähr beurteilen konnte, ob die Bilder vor dem Essen, während des Essens oder danach aufgenommen waren. Es waren insgesamt einhundertvier Fotos, viele unscharf und ohne eigentliches Zentrum. Auf vierundsechzig Bildern waren entweder Håkan oder Louise zu sehen, auf zwölf Fotos beide. Auf zwei Fotos hatten sie Augenkontakt, Louise lächelte, Håkan war ernst. Wallander legte die Fotos nebeneinander, in der Reihenfolge, in der sie, wie er vermutete, aufgenommen worden waren. Auf allen Bildern fiel ihm auf, wie ernst Håkan von Enke war. Ist er nur durch und durch Offizier, oder spiegeln die Bilder seine Unruhe wider,von der er mir gleich erzählen wird?, dachte Wallander. Ich kann es nicht entscheiden. Aber es wirkt so, als wäre er schon hier beunruhigt.
Louise lächelte dagegen immer. Er fand nur eine Ausnahme. Aber da war sie sich nicht bewusst gewesen, dass der Fotograf sie im Sucher hatte. Ein einziges Bild, das die Wahrheit sagt? Oder ein Zufall? Er ging über zu den Fotos, auf denen eine große Anzahl der anwesenden Gäste festgehalten waren. Freundliche ältere Menschen, ein Eindruck von beträchtlichem Wohlstand. Es waren keine armen Schlucker gekommen, um Håkan von Enke zu feiern. Diese Menschen konnten es sich erlauben, zufrieden und entspannt auszusehen.
Wallander schob die Fotos zur Seite und wandte sich den beiden Gästelisten zu. Er zählte einhundertzwei Gäste. Die Namen waren alphabetisch geordnet. Es waren viele Ehepaare darunter.
Das Telefon klingelte, während er die erste Liste studierte. Es war Linda. »Ich bin neugierig«, sagte sie. »Hast du etwas gefunden?«
»Nichts, was ich nicht schon gewusst hätte. Louise lächelt. Håkan ist ernst. Hat er nie gelacht?«
»Nicht besonders oft. Aber Louises Lächeln ist echt. Sie hat nie eine Maske aufgesetzt. Ich glaube, sie war gut darin, Menschen zu durchschauen, die sich aufspielten.«
»Ich habe gerade angefangen, die Gästelisten anzusehen. Einhundertzwei Namen. Mir fast alle unbekannt. Alvén, Alm, Appelgren, Berntsius …«
»Der sagt mir etwas«, unterbrach Linda. »Sten Berntsius. Hoher Offizier bei der Marine. Ich war einmal bei einem unerfreulichen Essen zu Hause bei Håkan und Louise, zu dem er auch eingeladen war. Er war mit seiner Frau gekommen, einem eingeschüchterten kleinen Wesen, das die meiste Zeit dasaß und rot wurde und außerdem zu viel Wein trank. Aber Sten Berntsius war grässlich.«
»In welcher Weise?«
»Der Palme-Hass.«
Wallander zog die Stirn in Falten. »Wie lange kennst du Hans schon? Zwei Jahre? Seit 2006? Wenn ich mich nicht irre, lag der Mord an Palme da zwanzig Jahre zurück.«
»Hass lebt lange.«
»Du willst mir doch nicht erzählen, dass du vor zwei Jahren bei einem Essen gewesen bist, wo die Gäste schlecht von einem
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