Wallander 09 - Der Feind im Schatten
ich vergessen zu erwähnen.«
Martinsson zeigte auf das Zeitungsfoto. »Sie sieht ja gut aus, Mörderin oder nicht. Hast du nicht gesagt, sie hätte einen kurzen gelben Rock getragen?«
»Sie war sehr attraktiv«, sagte Wallander. »Bis auf die abgekautenFingernägel. Ich wüsste nicht, was dem Erscheinungsbild einer Frau abträglicher ist.«
Martinsson betrachtete Wallander mit einem erstaunten Lächeln. »Wir haben fast aufgehört mit so etwas. Also über Frauen zu reden, die uns über den Weg laufen. Früher haben wir das oft getan.«
Wallander bot Kaffee an, aber Martinsson lehnte ab. Wallander winkte ihm nach und kehrte zu seiner unterbrochenen Mahlzeit zurück. Es schmeckte nicht, aber er wurde satt. Nach dem Essen machte er einen langen Spaziergang mit Jussi, schnitt eine Hecke auf der Rückseite des Hauses zurück und nagelte seinen Briefkasten fest, der schief hing. Die ganze Zeit dachte er an das, was Herman Eber ihm erzählt hatte. Er war versucht, Ytterberg anzurufen, beschloss jedoch, bis zum nächsten Tag damit zu warten. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Ein Selbstmord war im Begriff, sich in einen Mord zu verwandeln, und dieser Mord war auf eine Art und Weise geschehen, die er nicht verstand. Gleichzeitig begann wieder das Gefühl an ihm zu nagen, etwas übersehen zu haben. Und nicht nur er, sondern alle, die an der Ermittlung beteiligt waren. Es war die vertraute Intuition, an deren Treffsicherheit er immer mehr zweifelte.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag wurde Wallander plötzlich krank. Binnen weniger als einer halben Stunde bekam er Fieber und musste sich mehrfach übergeben. Er vermutete, dass das Fleisch nicht gut gebraten war, nachdem er es am Tag zuvor lange in der Plastiktüte aus dem Laden im heißen Kofferraum hatte liegen lassen. Er warf sich aufs Sofa vor den Fernseher und zappte durch die Kanäle, musste aber immer wieder fluchtartige Sprints zur Toilette einlegen. Als um neun Uhr das Telefon klingelte, hatte er gerade einen heftigen Brechanfall hinter sich. Er nahm den Hörer ab. Es war Linda.
Sie war sofort besorgt, beruhigte sich aber schnell, als ihrklar wurde, dass es nichts mit dem Insulin zu tun hatte. »Morgen geht es dir wieder besser. Trink Tee.«
»Das kann ich nicht. Er kommt wieder hoch.«
»Dann trink Wasser.«
»Was meinst du, was ich tue?«
»Du isst zu wenig Gemüse.«
»Was hat das mit meiner Übelkeit zu tun?«
»Ich komme morgen früh und sehe nach dir. Du wirst genauso unausstehlich wie Großvater.«
Wallander krümmte sich wieder auf dem Sofa zusammen, erbrach sich aber kurz danach wieder, schlief eine Stunde, glaubte, sich besser zu fühlen, rannte aber aufs Neue zur Toilette. Danach zappte er weiter saft- und kraftlos durch die Kanäle. Er brachte nicht die Energie auf, sich auf irgendetwas einzulassen. Am Ende blieb er an einem Kanal hängen, auf dem Kickboxen gezeigt wurde. Ein schmächtiger kleiner Thai beförderte einen großen Holländer mit einem perfekten Tritt gegen den Kopf auf die Bretter. Wallander meinte den Schmerz im eigenen Körper zu spüren. Gegen Mitternacht schlief er ein und wachte irgendwann davon auf, dass er von Herman Eber und Louise von Enke geträumt hatte. Es war fünf Uhr am Morgen, seinem Magen ging es besser, aber er fühlte sich matt und hatte Kopfschmerzen. Er machte sich Tee, der diesmal blieb, wo er bleiben sollte. Durchs Fenster sah er Jussi, der reglos in seinem Zwinger stand, eine Pfote angehoben, und nach etwas draußen auf einem Acker spähte. Wallander konnte nicht sehen, was es war. Vielleicht ein Reh, das im Morgengrauen aus einem Wäldchen gekommen war? Das Bild hätte sein Vater in ein ewig wiederholtes Motiv verwandeln können. Witternder Hund im Morgengrauen . Aber er hatte eine Landschaft gewählt, in die er mit monotoner Präzision einen Auerhahn einfügte.
Wallander dachte an seinen Traum. Er hatte sich in Ebers mit Müll vollgestopftem Haus befunden. Louise balancierteauf einer Leiter und hängte gelbe Gardinen auf. Er hatte sie gefragt, wo sie sich seit ihrem Verschwinden aufgehalten habe. In diesem Moment war sie von der Leiter gefallen und sofort tot gewesen. Herman Eber war durch den Müll eingetreten, in einer grünen deutschen Militäruniform, er war sehr jung, und sein Mund war wie ein großes Loch, ohne Zähne. Er hatte etwas zu sagen versucht, doch Wallander hatte seine Worte nicht verstanden. Das war der Moment, in dem er mit einem Gefühl von Angst und Ohnmacht aufgewacht war. Es war nicht
Weitere Kostenlose Bücher