Wallander 09 - Der Feind im Schatten
nicht verraten wollte, wohin er unterwegs war und warum er diese Fahrt machte, ließ er es.Wenn er erst aus der Bucht herausgekommen war, würde er Martinsson anrufen. Wenn er überhaupt jemanden anrief. Der Auftrag, den er sich selbst erteilt hatte, hing nicht davon ab, ob der Mond schien oder nicht. Er wollte einfach nur wissen, was ihn erwartete.
Als er hinter den Inseln das offene Meer sehen konnte, stellte er den Motor auf Leerlauf und studierte die in Folie eingeschweißte Seekarte. Nachdem er sich orientiert hatte, wählte er eine Stelle nicht weit von seinem Ziel, wo er bis zum Abend abwarten wollte. Aber der Platz war schon besetzt, bei den Felsen lagen mehrere Boote vor Anker. Er fuhr weiter und fand schließlich eine Schäre, nicht viel größer als eine Klippe, mit einigen Bäumen. Hier konnte er an Land rudern, nachdem er den Motor gekippt hatte. Er zog seine Jacke an, lehnte sich an einen Baum und trank Kaffee aus der Thermoskanne. Dann rief er Martinsson an. Wieder meldete sich ein Kind, vielleicht dasselbe wie beim letzten Mal.
Martinsson kam an den Apparat. »Du hast Glück«, sagte er. »Meine kleine Enkelin wird allmählich deine Sekretärin.«
»Der Mond«, sagte Wallander.
»Was ist damit?«
»Du fragst zu schnell. Ich bin noch nicht fertig.«
»Entschuldigung. Aber die Kinder belegen mich total mit Beschlag.«
»Ich verstehe das und würde dich nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre. Hast du einen Kalender? In welcher Phase ist der Mond jetzt?«
»Der Mond? Ist das deine Frage? Bist du auf astronomische Abenteuer aus?«
»Vielleicht. Aber kannst du mir Auskunft geben?«
»Warte einen Augenblick.«
Martinsson legte das Telefon zur Seite. Er hatte an Wallanders Stimme gemerkt, dass er keine Erklärung bekommen würde.
»Wir haben Neumond«, sagte er, als er ans Telefon zurückkam. »Eine kleine, dünne Sichel. Vorausgesetzt, du befindest dich noch in Schweden.«
»Das tue ich. Danke für die Hilfe«, sagte Wallander. »Eines Tages erkläre ich es dir.«
»Ich bin gewohnt zu warten.«
»Worauf?«
»Auf Erklärungen. Nicht zuletzt von meinen Kindern, wenn sie nicht das tun, was wir besprochen haben. Aber das war hauptsächlich früher, als sie noch jünger waren.«
»Linda war genauso«, sagte Wallander in einem Versuch, Interesse zu bekunden.
Er bedankte sich noch einmal für die Hilfe und beendete das Gespräch. Er aß ein paar Butterbrote und legte sich dann hin, mit einem Stein als Kopfkissen.
Die Schmerzen kamen aus dem Nichts. Er lag da und schaute zum Himmel auf, in einiger Entfernung kreischten Möwen, als ihm ein Schmerz in den linken Arm fuhr, ein Schmerz, der sich auf Brust und Bauch ausdehnte. Zuerst glaubte er, es liege an einer scharfen Kante, die ihm wehtat. Dann musste er einsehen, dass die Schmerzen von innen kamen. Es waren genau die, vor denen er sich immer gefürchtet hatte. Er hatte einen Herzinfarkt.
Er lag reglos da, starr vor Schreck, und atmete möglichst flach. Er fürchtete, jeder neue Atemzug könnte den letzten Rest der Fähigkeit seines Herzens, zu schlagen, auslöschen.
Die Erinnerung an den Tod seiner Mutter trat auf einmal sehr deutlich in sein Bewusstsein. Es war, als spielte sich ihre letzte Stunde unmittelbar neben ihm ab. Sie war erst fünfzig Jahre alt gewesen. Sie hatte nie außerhalb des Haushalts gearbeitet, sondern versucht, die Familie mit den beiden Kindern Kurt und Kristina und ihrem launischen Mann mit den stets unsicheren Einkünften zusammenzuhalten. Sie hatten damals in Limhamn gewohnt und ein Haus miteiner anderen Familie geteilt. Der Mann war ein Lokführer, der nie einem Menschen etwas zuleide getan hatte. Eines Tages hatte er, aus reiner Freundlichkeit, Wallanders Vater gefragt, ob es nicht entspannend sein könnte, auch andere Motive zu malen als ständig die gleiche Landschaft. Wallander hatte das Gespräch mit angehört, der Lokführer, Nils Persson, hatte seinen eigenen Beruf als Beispiel angeführt. Nach langen Perioden mit immergleichen Fahrten zwischen Malmö und Alvesta war er glücklich, als er auf eine Express-Dampflok versetzt wurde, die nach Göteborg, ja manchmal sogar bis nach Oslo fuhr. Wallanders Vater war jedoch außer sich gewesen und hatte die Bekanntschaft sogleich aufgekündigt. Danach war es an Wallanders Mutter gewesen, ausgleichend zu wirken und für ein einigermaßen erträgliches Nachbarschaftsverhältnis zu sorgen.
Ihr Tod war plötzlich eingetreten, an einem Nachmittag im Herbst 1962. Sie
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