Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Aktentasche am Abend leer war.«
»Sie muss doch etwas gemerkt haben. Alles andere erscheint mir unwahrscheinlich.«
»Ich habe ihr nie etwas angesehen. Sie war wie immer.Nach einigen Jahren fragte ich mich sogar, ob alles nur ein böser Traum war. Aber ich kann mich natürlich irren. Sie kann sehr wohl erkannt haben, dass ich sie durchschaut hatte. So teilten wir ein Geheimnis, ohne sicher zu sein, wie viel der andere wusste. Aber eines Tages veränderte sich alles.«
Wallander ahnte, worauf von Enke hinauswollte. »Du meinst die U-Boote?«
»Ja. Damals kamen auch Gerüchte auf, dass der Oberbefehlshaber den Verdacht hatte, in den schwedischen Streitkräften befinde sich irgendwo ein Spion. Die ersten Warnungen waren von einem abgesprungenen russischen Agenten gekommen, der in London ausgesagt hatte. Es gebe einen Spion in den Reihen der schwedischen Streitkräfte, den die Russen sehr hoch einstuften. Eine Person, die die Kunst beherrschte, an wirklich wichtige Informationen heranzukommen.«
Wallander schüttelte langsam den Kopf. »Das ist schwer zu verstehen«, sagte er. »Ein Spion in den Reihen der schwedischen Streitkräfte. Deine Frau war Lehrerin, in ihrer Freizeit trainierte sie talentierte junge Wasserspringerinnen. Wie konnte sie an militärische Geheimnisse kommen, wenn deine Tasche leer war?«
»Ich weiß noch, dass der russische Überläufer Ragulin hieß. Einer von vielen Überläufern damals. Wir konnten sie kaum auseinanderhalten. Er kannte natürlich nicht den Namen oder die näheren Umstände jener Person, die von den Russen nahezu verehrt wurde. Aber er wusste eine Sache, ein Detail, wenn man so will, und das veränderte das Bild auf dramatische Weise. Auch für mich.«
»Was war es?«
Håkan von Enke stellte die leere Tasse ab. Es war, als nähme er Anlauf. Wallander dachte an das, was Herman Eber ihm über einen anderen abgesprungenen Russen namens Kirov erzählt hatte.
»Es war eine Frau«, sagte von Enke. »Ragulin hatte gehört, dass der schwedische Spion eine Frau war.«
Wallander schwieg.
In den Wänden der Jagdhütte nagten die Mäuse.
32
Auf einer Fensterbank stand eine Flasche mit einem halbfertigen Schiff. Wallander bemerkte es erst, als Håkan von Enke zum zweiten Mal vom Tisch aufstand und nach draußen ging. Es schien ihn unsäglich zu quälen, einem anderen Menschen gegenüber zuzugeben, dass seine Frau Spionin gewesen war. Wallander hatte gesehen, dass seine Augen blank waren, als er sich entschuldigte und den Raum verließ. Er ließ die Tür offen stehen. Draußen wurde es allmählich hell, die Gefahr, dass jemand das Licht im Haus sehen könnte, verringerte sich. Als Håkan zurückkehrte, stand Wallander noch da und studierte die feine Detailarbeit des in Entstehung begriffenen Buddelschiffs.
»Die Santa María«, sagte von Enke. »Das Schiff des Kolumbus. Es hilft mir, die Gedanken abzuwehren. Ich habe die Kunst von einem alten Maschinisten gelernt, der Alkoholprobleme hatte. Man konnte ihn nicht mehr an Bord nehmen. Stattdessen ging er in Karlskrona herum und redete schlecht über alles und alle. Aber seltsamerweise beherrschte er die Kunst des Buddelschiffbaus, obwohl seine Hände nach menschlichem Ermessen viel zu zitterig hätten sein müssen. Ich selbst hatte nie die Zeit, mich damit zu beschäftigen, bevor ich hierher auf die Insel kam.«
»Eine namenlose Insel«, sagte Wallander.
»Ich nenne sie Blåskär. Irgendeinen Namen muss sie doch haben. Blåkulla und Blå Jungfrun gibt es bereits.«
Sie setzten sich wieder an den Tisch. Stillschweigend waren sie sich einig, dass der Schlaf noch warten konnte. Sie hatten ein Gespräch begonnen, das weitergehen musste.Wallander sah, dass er jetzt an der Reihe war. Håkan von Enke wartete auf seine Fragen.
Wallander kam zum Ausgangspunkt zurück. »Bei der Feier zu deinem fünfundsiebzigsten Geburtstag wolltest du mit mir sprechen. Aber mir ist immer noch nicht klar, warum du diese Ereignisse ausgerechnet mir erzählt hast. Wir kamen auch zu keinem richtigen Endpunkt. Vieles habe ich nicht verstanden. Und verstehe es immer noch nicht.«
»Ich war der Meinung, dass du es wissen solltest. Mein Sohn und deine Tochter, unsere einzigen Kinder, werden hoffentlich ihr Leben lang zusammenbleiben.«
»Nein«, sagte Wallander. »Was du jetzt sagst, ist keine ausreichende Antwort. Es gab noch einen Grund, davon bin ich überzeugt. Außerdem empört es mich, dass du nicht die ganze Wahrheit gesagt hast, das will ich
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