Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Limhamn hatte verlassen dagelegen. Er hatte die Stelle schon vorher ausgesucht, einen ungewöhnlich glatten Stein in der westlichen Ecke der Mauer. Während ein kalter Regen auf ihn fiel, meißelte er seine Initialen »KW« in die Friedhofsmauer.
Er entdeckte die Buchstaben sofort. Sie waren leicht verwittert und im Verlauf der vielen Jahre undeutlich geworden. Aber er hatte tief gemeißelt, sein Zeichen war noch da. Eines Tages werde ich mit Klara herkommen, dachte er. Ich werde ihr erzählen, wie ich damals beschloss, die Welt zu verändern. Und sei es auch nur durch das Einritzen meiner Initialen in eine Steinmauer.
Er ging auf den Friedhof und setzte sich auf eine Bank im Schatten eines Baums. Er schloss die Augen und meinte, seine eigene kindliche Stimme zu hören, wie sie vor dem Stimmbruch geklungen hatte und bevor all das, was der Erwachsenenwelt angehörte, über ihn hereingebrochen war. Vielleicht sollte ich mich hier begraben lassen, dachte er. Zum Ausgangspunkt zurückkehren, mich in genau diese Erde legen. Die Grabinschrift habe ich schon in die Friedhofsmauer geritzt.
Er verließ den Friedhof und setzte sich in den Wagen. Bevor er den Motor anließ, dachte er noch einmal über das Gespräch mit Asta Hagberg nach. Was hatte es ihm gebracht?
Die Antwort war einfach. Er war keinen Schritt weitergekommen. Louise blieb so anonym wie zuvor. Eine Offiziersfrau, die auf den Bildern nicht zu sehen war.
Aber die Unruhe, die er seit der Begegnung mit Håkan von Enke auf der Insel in sich gespürt hatte, war noch da.
Ich sehe es nicht, dachte Wallander. Das, was ich längst hätte entdecken sollen. Ich sehe nicht das, was mir helfen kann, endlich zu begreifen, was geschehen ist.
34
Wallander kehrte nach Hause zurück. Der Besuch bei Asta Hagberg hatte ihm nichts gebracht, doch damit hatte er rechnen müssen. Schlimmer bedrückte ihn die Trauer über Baibas Tod. Sie kam und ging in Wellen, die Erinnerung an ihren unerwarteten Besuch und an ihren Tod so kurz danach. Es war, wie es war: In ihrem Tod sah er auch seinen eigenen.
Nachdem er den Wagen abgestellt und Jussi aus dem Zwinger geholt hatte, damit er laufen konnte, wie es ihm gefiel, goss er sich ein großes Glas Wodka ein. Er leerte es, an der Spüle stehend, in einem Zug. Er füllte das Glas noch einmal und nahm es mit ins Schlafzimmer, schloss die Gardinen vor den beiden Fenstern, zog sich aus und legte sich nackt aufs Bett. Das Glas balancierte er auf seinem zitternden Bauch. Noch einen Schritt kann ich gehen, dachte er. Wenn der mich nicht weiterbringt, gebe ich auf. Ich teile Håkan mit, dass ich Linda und Hans sagen werde, wo er sich aufhält. Wenn das dazu führt, dass er sich ein neues Versteck sucht, dann ist das seine Sache. Ich rede mit Ytterberg, Nordlander und unbedingt mit Atkins. Danach ist das hier nicht mehr meine Angelegenheit, was es ja eigentlich nie gewesen ist. Bald ist der Sommer vorbei, mein Urlaub war keiner, und ich werde wieder am Schreibtisch sitzen und mich wundern, wo die Zeit geblieben ist.
Er leerte das Glas und fühlte, wie sich die Wärme und der angenehme Rausch einstellten. Noch einen Schritt, dachte er. In welche Richtung? Er stellte das leere Glas auf den Nachttisch und war bald eingeschlafen. Als er eineStunde später erwachte, wusste er, was er tun würde. Im Schlaf hatte sein Gehirn eine Antwort formuliert. Er sah es ganz klar, das Einzige, was jetzt wichtig war. Wer, wenn nicht Hans, konnte ihm weitere Auskünfte geben? Er war ein intelligenter junger Mann, vielleicht nicht besonders sensibel. Aber Menschen wussten immer viel mehr, als sie zu wissen glaubten. Über Ereignisse, Beobachtungen, die sie unbewusst gespeichert hatten.
Er suchte seine schmutzige Wäsche zusammen und stellte die Waschmaschine an. Dann rief er Jussi. Ein Bellen ertönte vom frisch gemähten Feld eines Nachbarn. Jussi kam angestürmt, er hatte sich in etwas Übelriechendem gerollt. Wallander sperrte ihn in seinen Zwinger, zog den Gartenschlauch heran und spritzte den Hund ab. Jussi stand mit eingeklemmtem Schwanz da und sah Wallander flehentlich an.
»Du riechst nach Scheiße«, sagte Wallander. »Ich kann keinen stinkenden Hund ins Haus lassen.«
Dann ging Wallander in die Küche und setzte sich an den Tisch. Er schrieb die wichtigsten Fragen auf, die ihm einfielen, und suchte die Nummer von Hans’ Arbeitsplatz in Kopenhagen. Als ihm mitgeteilt wurde, Hans sei für den Rest des Tages in wichtigen Sitzungen und nicht zu
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