Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Text. Oktober 1959, schwedische Marinedelegation zu Besuch in Washington, Empfang beim Militärattaché Wennerström. Wallander suchte nach einer Bedeutung. Hätte Louise dort gestanden, wäre es ihm leichter gefallen, sich einen Zusammenhang vorzustellen. Aber sie war nicht dabei. Im Hintergrund des Bildes waren nurMänner und eine weiß gekleidete Serviererin zu sehen, eine Schwarze.
»Reisten die Ehefrauen mit?«, fragte er.
»Nur wenn die allerhöchste militärische Führung auf Reisen ging. Stig Wennerström nahm seine Frau häufig mit auf Reisen und zu Empfängen. Aber auf dieser Reise war Håkan von Enke weit davon entfernt, zur absoluten Spitze zu zählen. Er war vermutlich allein auf der Reise. Wenn Louise ihn begleitet hätte, wäre es auf eigene Kosten gewesen. Und sie hätte bestimmt nicht an einem Empfang beim schwedischen Militärattaché teilgenommen.«
»Ich wüsste gerne genau, wie es auf dieser Reise war.«
Asta Hagberg hatte wieder einen Hustenanfall. Wallander stellte sich an ein Fenster und öffnete es einen Spaltweit. Der Parfümgeruch raubte ihm den Atem.
»Es dauert ein bisschen«, sagte sie, als der Hustenanfall vorbei war. »Ich muss es suchen. Aber Sölve hat natürlich die Informationen über diese und alle anderen Delegationsreisen schwedischer Militärs aufbewahrt.«
Er kehrte zum Sofa von der Kungsholm zurück. Er hörte sie vor sich hin summen, während sie in einem dritten Zimmer nach dem Verzeichnis der Personen suchte, die Ende der fünfziger Jahre an Amerikareisen teilgenommen hatten.
Es dauerte fast vierzig Minuten, und Wallander wartete immer ungeduldiger, bis sie mit triumphierendem Blick und einem Papier in der Hand wieder ins Zimmer trat. »Frau von Enke war dabei«, sagte sie. »Sie ist hier als ›Begleitperson‹ verzeichnet, und daneben stehen ein paar Abkürzungen, die wahrscheinlich besagen, dass es nicht die Marine war, die ihre Reise bezahlte. Wenn es wichtig ist, kann ich bestimmt herausfinden, was diese Abkürzungen bedeuten.«
Wallander hatte das Blatt in die Hand genommen. Die Delegation hatte aus acht Personen unter der Führung von Korvettenkapitän Karlén bestanden. Unter »Begleitpersonen« waren unter anderem Louise von Enke und MärtaAurén verzeichnet, die Frau von Oberstleutnant Karl-Axel Aurén.
»Kann man hiervon eine Kopie machen?«, fragte Wallander.
»Was ›man‹ kann, weiß ich nicht. Aber ich habe ein Fotokopiergerät im Keller. Wie viele Kopien brauchen sie?«
»Eine.«
»Ich berechne zwei Kronen pro Kopie.«
Sie verschwand. Wallander dachte, dass Håkan und Louise acht Tage in Washington gewesen waren. Das hieß, dass Louise von jemandem kontaktiert worden sein konnte. Aber war das überhaupt wahrscheinlich? Schon damals? Gegen Ende der fünfziger Jahre trat der Kalte Krieg sicher in eine schärfere Phase. Es war eine Zeit, in der die Amerikaner an jeder Straßenecke russische Spione sahen. War auf dieser Reise etwas geschehen?
Asta Hagberg kam mit der Kopie zurück. Wallander legte zwei Einkronenstücke auf den Tisch.
»Ich war Ihnen vielleicht keine so große Hilfe, wie Sie gehofft hatten?«
»Nach verschwundenen Menschen zu suchen ist häufig eine zähe und sehr langwierige Arbeit. Man muss Schritt für Schritt vorgehen.«
Sie begleitete ihn hinaus. Erleichtert zog er die parfümfreie Luft in die Lungen.
»Melden Sie sich ruhig wieder«, sagte sie. »Ich bin hier, falls ich Ihnen behilflich sein kann.«
Wallander nickte, bedankte sich und verließ den Garten. Er stieg in seinen Wagen und war schon fast am Ortsrand von Limhamn, als er beschloss, noch einen anderen Platz aufzusuchen. Er hatte schon oft daran gedacht, nachzusehen, ob ein Erinnerungszeichen, das er vor etwa fünfzig Jahren hinterlassen hatte, noch vorhanden war. Er parkte am Friedhof. Dann ging er vor bis zur westlichen Ecke der Mauer undbeugte sich hinunter. War er zehn oder elf Jahre alt gewesen? Er wusste es nicht genau. Aber alt genug, um eins der großen Geheimnisse des Lebens entdeckt zu haben. Dass er nämlich er selbst war, nicht verwechselbar, ein Mensch mit einer ganz eigenen Identität. Diese Erkenntnis hatte ihn in große Versuchung geführt. Er würde sein Zeichen an einer Stelle anbringen, wo es nie verschwinden könnte. Die niedrige Friedhofsmauer, gekrönt von einem eisernen Geländer, war das Heiligtum, das er auserwählt hatte. Eines Herbstabends schlich er sich dorthin, einen dicken Nagel und einen Hammer in seiner Jacke verborgen.
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