Wallander 09 - Der Feind im Schatten
irgendwo muß doch die undichte Stelle sein. Es gibt genug Leute im Präsidium, die mich nicht mögen.«
Martinsson zuckte mit den Schultern. »Das ist einfach so. Dagegen kann man nichts machen. Wer mag mich denn?«
Sie redeten über alles und nichts. Wallander dachte, dass Martinsson jetzt als Einziger aus der Zeit übrig geblieben war, als er in Ystad angefangen hatte.
Martinsson machte einen bedrückten Eindruck. Wallander fragte, ob er krank sei.
»Nein, nicht krank«, erwiderte Martinsson. »Aber ich habe mich damit abgefunden, dass es vorbei ist. Also meine Zeit bei der Polizei.«
»Hast du auch deine Pistole in einer Kneipe vergessen?«
»Ich kann nicht mehr.«
Zu Wallanders großer Verblüffung fing Martinsson plötzlich zu weinen an. Wie ein hilfloses Kind saß er mit der Kaffeetasse zwischen den Händen da, während die Tränen rannen. Wallander wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte Martinsson zwar im Lauf der Jahre schon viele Male niedergeschlagen erlebt, aber noch nie war er so zusammengebrochen wie jetzt. Wallander beschloss, einfach abzuwarten. Als das Telefon klingelte, zog er nur den Stecker heraus.
Martinsson fasste sich wieder und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Wie ich mich anstelle«, sagte er. »Entschuldige.«
»Was gibt es da zu entschuldigen? Wer es schafft, vor einem anderen Menschen zu weinen, zeigt meiner Auffassung nach großen Mut. Einen Mut, über den ich selbst leider nicht verfüge.«
Martinsson erzählte ihm von seiner sich vertiefenden Wüstenwanderung. Es war so weit gekommen, dass er seine Rolle als Polizist immer mehr in Frage stellte. Nicht dass er mit seiner eigenen Arbeit unzufrieden war, seine Zweifel betrafen vielmehr die Rolle der Polizei in der gegenwärtigen schwedischen Gesellschaft, in der sich zwischen den Erwartungen der Bürger und dem, was die Polizei leistete, eine immer größere Kluft auftat. Inzwischen war er an einem Punkt angelangt, wo jede Nacht zu einem schlaflosen Warten auf den nächsten quälenden Tag wurde.
»Ich höre zum Sommer auf«, sagte Martinsson. »Ich habe Kontakt zu einer Firma in Malmö aufgenommen, die kleine Unternehmen und private Grundstücksverwaltungen in Sicherheitsfragen berät. Da kann ich arbeiten, und außerdem verdiene ich wesentlich mehr als jetzt.«
Wallander erinnerte sich an eine Situation vor vielen Jahren, als Martinsson schon einmal hatte aufhören wollen. Damals war es Wallander gelungen, ihn zum Bleiben zu überreden. Es war jetzt mindestens fünfzehn Jahre her. Ihn jetzt noch einmal zu überreden hielt Wallander für ziemlich unmöglich. Seine eigene Lebenssituation war auch kaum dazu angetan, die Zukunft bei der Polizei als besonders verlockend zu betrachten. Auch wenn er natürlich nie Sicherheitsberater werden wollte.
»Ich glaube, ich verstehe dich«, sagte er. »Und ich denke, du tust das Richtige. Wechsle, solange du noch jung genug dazu bist.«
»In ein paar Jahren werde ich fünfzig«, sagte Martinsson. »Ist man da noch jung?«
»Ich bin sechzig«, sagte Wallander. »Da hat man die Schleuse passiert, durch die nur noch die hindurchgelassen werden, die richtig alt werden.«
Martinsson blieb noch eine Weile und erzählte von der Arbeit, die ihn in Malmö erwartete. Wallander verstand, dass er zu zeigen versuchte, wie groß sein Enthusiasmus trotz allem noch war.
Wallander begleitete ihn zum Auto.
»Hast du etwas von Mattson gehört?«, fragte Martinsson vorsichtig.
»Der Staatsanwalt kann zwischen vier Maßnahmen wählen«, sagte Wallander. »Ein ›belehrendes Gespräch‹, das sie aber bei mir nicht anwenden können. Es würde bedeuten, das gesamte Polizeikorps der Lächerlichkeit preiszugeben. Ein sechzigjähriger Polizeibeamter, der wie ein ungehorsamer Junge vor dem Provinzpolizeipräsidenten oder wemauch immer sitzen und sich eine schulmeisternde Rede anhören soll.«
»Ist davon die Rede gewesen? Das wäre doch völlig verrückt!«
»Sie können mich auch abmahnen«, fuhr Wallander fort. »Oder mir eine Gehaltskürzung aufbrummen. Als letzte Station auf dem Weg abwärts können sie mich entlassen. Ich nehme an, sie entscheiden sich für eine Gehaltskürzung.«
Sie trennten sich beim Wagen. Martinsson verschwand in einer Schneewolke. Wallander kehrte ins Haus zurück und blätterte in seinem Kalender: Seit jenem unseligen Abend, an dem er seine Waffe vergessen hatte, war mehr als ein Monat vergangen.
Er blieb weiter krankgeschrieben, nachdem der Gips entfernt worden war.
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