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Wallander 09 - Der Feind im Schatten

Wallander 09 - Der Feind im Schatten

Titel: Wallander 09 - Der Feind im Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Zu leben hat seine Zeit, tot zu sein hat seine Zeit.
    Es war kalt im Wagen. Er ließ den Motor an und stellte die Heizung auf Maximum. Ein ums andere Mal ließ er im Kopf den Überfall ablaufen. Er stand noch unter Schock, merkte aber jetzt, wie der Zorn in ihm aufstieg.
    Er fuhr zusammen, als jemand an die Scheibe klopfte, dachte, die Jungen seien zurückgekommen. Doch das Gesicht, das sich zeigte, gehörte einer alten Dame mit Baskenmütze auf dem Kopf. Er öffnete die Tür einen Spalt weit.
    »Es ist verboten, den Motor so lange im Leerlauf laufenzu lassen, wie Sie es tun«, sagte sie. »Ich bin mit meinem Hund hier draußen und habe auf die Uhr gesehen, wie lange Ihr Wagen hier schon mit laufendem Motor steht.«
    Wallander antwortete nicht, sondern nickte nur und fuhr davon. In dieser Nacht lag er lange wach. Als er zum letzten Mal auf die Uhr sah, zeigte sie fünf. Am Tag danach verschwand Håkan von Enke. Und Wallander erstattete nie Anzeige wegen des Überfalls, der auf ihn verübt worden war, und erzählte niemandem davon, nicht einmal Linda.
     
    Als von Enke nach achtundvierzig Stunden nicht zurückgekommen war, begann Wallander einzusehen, dass etwas Ernstes geschehen war. Es war für ihn eine Selbstverständlichkeit, nach Stockholm zu fahren, als sein zukünftiger Schwiegersohn anrief und darum bat. Wallander verstand, dass es eigentlich Louise war, die um Hilfe gebeten hatte. Von vornherein erklärte Wallander, er wolle sich nicht in die polizeilichen Ermittlungen einmischen. Die Kollegen in Stockholm bearbeiteten den Fall. Polizisten, die sich einmischten und Reviergrenzen überschritten, machten sich nie beliebt.
    Am Abend vor der Reise nach Stockholm, einem der frühen, immer heller werdenden Vorfrühlingsabende, fuhr Wallander zu Linda. Hans war wie gewöhnlich nicht zu Hause, weil er mit seinen »finanziellen Spekulationen«, wie Wallander es nannte, unentwegt Überstunden machte. Das hatte auch zum bisher einzigen Streit mit seinem Schwiegersohn in spe geführt. Hans hatte gekränkt dagegen protestiert, dass seine Kollegen und er selbst sich nur damit beschäftigten. Aber als Wallander fragte, worin denn seine Arbeit genau bestehe, beschrieb die Antwort genau das, nämlich Spekulationen mit Währungen und Wertpapieren, Derivaten und Hedgefonds (von denen Wallander eingestandenermaßen keine Ahnung hatte). Linda hatte eingegriffen und erklärt, ihr Vater verstehe sich weder auf Geldnoch auf die rätselhaften und deshalb furchteinflößenden finanziellen Instrumente der neuen Zeit. Früher hätte Wallander empört auf ihre Feststellung reagiert, aber jetzt spürte er die Wärme in ihrer Stimme und machte eine resignierende Handbewegung zum Zeichen der Unterwerfung.
    Jetzt aber saß er bei ihnen zu Hause. Das Baby, das noch keinen Namen hatte, schlief auf einer Decke zu Lindas Füßen. Wallander betrachtete es und kam, vielleicht zum ersten Mal, zu der Einsicht, dass seine Tochter nie wieder auf seinem Schoß sitzen würde. Wenn die eigenen Kinder selbst Kinder bekommen, bedeutet das immer, dass etwas unwiderruflich vorbei ist.
    »Was könnte mit Håkan passiert sein?«, fragte Wallander. »Was ist deine Meinung, als Polizistin und als Schwiegertochter?«
    Lindas Antwort kam schnell und gut vorbereitet. »Ich bin sicher, dass ihm etwas zugestoßen ist. Ich fürchte sogar, er könnte tot sein. Håkan ist kein Mensch, der einfach verschwindet. Er würde nie Selbstmord begehen, ohne eine Mitteilung zu hinterlassen, in der er seine Gründe angäbe. Er würde ohnehin nie Selbstmord begehen, aber das ist eine andere Sache. Wenn er eine strafbare Tat begangen hätte, würde er sich nicht davonstehlen, sondern seine Strafe annehmen. Ich glaube ganz einfach nicht, dass er freiwillig verschwunden ist.«
    »Kannst du das erläutern?«
    »Muss ich das? Du verstehst doch auch so, was ich meine.«
    »Ja, aber ich will es mit deinen Worten hören.«
    Wallander dachte zum zweiten Mal, dass sie sich gut vorbereitet hatte. Linda war nicht nur eine Person, die sich über einen Angehörigen äußerte, sie war auch eine scharfsinnige junge Polizistin, die ihre Ansicht darlegte.
    »Wenn man von Unfreiwilligkeit spricht, gibt es zweimögliche Antworten. Entweder ist ein Unglück geschehen, man bricht ins Eis ein oder wird von einem Auto angefahren. Oder man wird ein Opfer vorsätzlicher Gewalt, man wird entführt oder erschlagen. Dass ein Unglück geschehen sein könnte, ist nicht mehr wahrscheinlich. Er ist in keinem der

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