Wallander 09 - Der Feind im Schatten
an, und er hatte ein Anliegen. Seine Frau Aina, der Wallander wahrscheinlich nur ein einziges Mal begegnet war, würde bald sterben. Sie war unheilbar an Krebs erkrankt, man konnte nichts mehr tun, und sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden.
»Aber sie will Sie treffen, Herr Kommissar«, sagte Dahlberg. »Sie will Ihnen etwas sagen. Was es ist, weiß ich nicht.«
Wallander hatte gezögert. Zugleich war er neugierig geworden und setzte sich also in seinen Wagen und fuhr zum Pflegeheim in Hammenhög, in dem Aina Dahlberg lag. An der Anmeldung wurde er von einer Schwester empfangen, die ihm lächelnd erklärte, sie sei in Lindas Parallelklasse gegangen. Sie begleitete ihn zu Aina Dahlbergs Abteilung. Es bedrückte Wallander, all die Alten zu sehen, die mit ihren Rollatoren umherschlurften oder dasaßen und an die Wand starrten, von Schweigen und Isolation umgeben. Seine Furcht vor dem Alter hatte sich mit den Jahren ständig verstärkt. Er fühlte sich wie von einer unsichtbaren und lautlosen Hebebühne entführt, einem Punkt entgegen, an dem er nicht mehr in der Lage wäre, sich selbst zu helfen. Ständig wurde er von Reportagen in der Presse und im Fernsehen über die Vernachlässigung älterer Menschen aufgeschreckt; meistens ging es um private Pflegeheime, in denen die Grenze zu einem noch vertretbaren Minimum an Personal längst unterschritten war.
Sie blieben vor einer Tür stehen.
»Sie ist schwer krank«, sagte die Pflegerin. »Aber Sie sind Polizist, Sie haben Menschen in vielen verschiedenen Zuständen erlebt. Nicht wahr?«
Wallander bereute im selben Moment, hergekommen zu sein. Aina Dahlberg lag allein im Zimmer. Sie war ausgemergelt, ihr Mund stand offen, und ihre glänzenden Augen betrachteten Wallander mit einem Ausdruck des Entsetzens – so empfand er es. Es roch nach Urin, dachte er, genau wie in der letzten Zeit meines Vaters, wenn er allein war, wenn Gertrud sich seiner nicht erbarmt hatte. Er trat ans Bett und berührte ihre Hand. Er erkannte sie nicht, nahm höchstens ganz entfernt das Bild einer Frau wahr, die er einmal getroffen hatte. Doch sie wusste, wer er war, und begann sofort zu reden, als wäre nicht viel Zeit, was ja auch zutraf.
Wallander beugte sich über sie, um zu verstehen, was siesagte. Aus ihrem Mund kam eher ein zischendes Geräusch als Worte. Er bat sie, zu wiederholen, was sie zu sagen versuchte, einmal und noch einmal, bevor er verstand. Verwirrt fragte er sie, wie es ihr gehe. Er vermochte nicht zu verhindern, dass die idiotische Frage aus seinem Mund kam. Er streichelte noch einmal ihre Hand und verließ das Zimmer.
Draußen im Korridor stand eine Frau und strich liebkosend mit der Hand über die Blätter einer Topfpflanze. Wallander ging hastig davon. Erst auf der Straße begann er darüber nachzudenken, was Aina Dahlberg gesagt hatte. Du hattest einen Vater, der dich sehr geliebt hat. Warum hatte sie nach ihm gerufen, um ihm dies zu sagen? Er konnte sich nur eine Erklärung denken, nämlich dass sie glaubte, er wüsste es nicht. Und jetzt wollte sie ihm zu dieser Einsicht verhelfen, bevor sie selbst fortging.
Wallander fuhr nach Ystad zurück und parkte den Wagen am Kleinboothafen. Er ging zu der Bank am äußersten Ende der Pier. Hierhin zog er sich oft zurück, wenn er seine Ruhe haben und etwas, was ihn quälte, verarbeiten wollte; die Bank war wie ein Hochsitz in seinem Leben, ein Beichtstuhl ohne Pastor. Es war ein kaltes Frühjahr gewesen, regnerisch und windig, aber jetzt hatte sich der erste sommerliche Hochdruck übers Land gelegt. Wallander zog die Jacke aus und schloss die Augen gegen die Sonne, öffnete sie aber sofort wieder. Wie eine Membrane zwischen ihm und der Sonne war Aina Dahlbergs Gesicht ihm erschienen. Du hattest einen Vater, der dich sehr geliebt hat. Oft hatte er sich gefragt, ob es wirklich so war. Sie hatten sich nie darüber ausgesöhnt, dass er Polizist geworden war. Aber das Leben musste doch so viel mehr gewesen sein. Mona hatte seinen Vater grässlich gefunden und sich geweigert mitzufahren, wenn Wallander ihn besuchen wollte. Es hatte damit geendet, dass nur Linda und er sich in den Wagen setzten und nach Löderup fuhren. Gegenüber Linda hatte sein Vater sich immer freundlich gezeigt. Bei ihr hatte er eine Geduld bewiesen,wie sie weder Wallander noch seine Schwester Kristina als Kinder je erlebt zu haben glaubten.
Er war ein Mann, der sich ständig entzog, dachte Wallander. Bin ich im Begriff, genauso zu werden?
Ein Mann in
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