Wallander 09 - Der Feind im Schatten
zurückzukehren. Wallander erklärte ihm, wie er fahren sollte, um am schnellsten auf die Landstraße nach Ystad und Malmö zu gelangen.
Als Atkins sich verabschiedete, holte er einen kleinen Stein aus der Tasche und gab ihn Wallander. »Ein Geschenk«, sagte er. »Ich hörte einmal einen alten Indianer von einer Tradition seines Stammes erzählen. Ich glaube, es waren die Kiowa. Wenn ein Mensch ein Problem hat, steckt er einen Stein, gern einen schweren, in seine Kleider und schleppt ihn mit sich, bis er seine Schwierigkeiten gelöst hat. Dann kann er den Stein weglegen und wieder mit Leichtigkeitdurchs Leben gehen. Stecken Sie diesen Stein in die Tasche. Lassen Sie ihn darin, bis wir wissen, was mit Håkan geschehen ist.«
Es ist wohl ein ganz gewöhnlicher Granit, dachte Wallander, während er Atkins nachwinkte, der den Hügel hinabfuhr. Dabei fiel ihm der Stein ein, der auf dem Schreibtisch in der Grevgata gelegen hatte. Und er dachte an das, was Atkins über seine erste Begegnung mit Håkan von Enke erzählt hatte. Wallander hatte keine Erinnerung an jene Tage im August 1961. Er war damals dreizehn Jahre alt geworden, und seine einzige wirkliche Erinnerung betraf den Hormonsturm, der ihn durchgeschüttelt und bewirkt hatte, dass sein gesamtes Leben sich in Träumen abspielte. Träumen von Frauen, eingebildeten oder wirklichen.
Wallander gehörte zur Generation derer, die in den sechziger Jahren erwachsen geworden waren. Aber er war nie selbst in einer politischen Bewegung aktiv gewesen, hatte nie an einer Demonstration in Malmö teilgenommen, nie ganz verstanden, worum es beim Vietnamkrieg eigentlich ging, und er hatte sich wenig für Befreiungsbewegungen in Ländern interessiert, von denen er kaum wusste, wo sie lagen. Linda erinnerte ihn oft daran, dass er ein ziemlich unwissender Mensch war. Die Politik hatte er als eine höhere Macht abgetan, die über die Möglichkeiten der Polizei, Ruhe und Ordnung zu bewahren, bestimmte, kaum mehr. Er hatte zwar an Wahlen teilgenommen, aber stets bis zuletzt gezögert. Sein Vater war überzeugter Sozialdemokrat gewesen, und auch er hatte meistens diese Partei gewählt. Aber selten aus echter Überzeugung.
Die Begegnung mit Atkins hatte ihn betroffen gemacht. Er suchte nach einer Berliner Mauer in seinem Inneren, konnte jedoch keine finden. War sein Leben wirklich so beschränkt gewesen, dass er von den äußeren Ereignissen, die ihn umgaben, nie wesentlich berührt worden war? Was hatte ihn in seinem Leben aufgewühlt? Natürlich Bildervon Kindern, denen Schlimmes widerfahren war, aber sie hatten nicht dazu geführt, dass er sich engagierte. Seine Ausrede war stets die Arbeit gewesen, dachte er. Da habe ich zwar Menschen helfen können, indem ich dafür gesorgt habe, dass Übeltäter von der Straße geholt wurden. Aber darüber hinaus? Er blickte über die Äcker hin, fand aber nicht, was er suchte.
An diesem Abend räumte er seinen Arbeitstisch auf und kippte alle Teile eines Puzzles darauf aus, das Linda ihm im Jahr zuvor zum Geburtstag geschenkt hatte. Das Motiv war ein Gemälde von Degas. Er sortierte die Teile methodisch und schaffte es, die untere linke Ecke des Bildes zu legen.
Die ganze Zeit grübelte er über Håkan von Enke und sein Schicksal. Aber dabei sann er doch auch über sein eigenes Leben nach.
Er suchte weiter nach einer Mauer, die es nicht gab.
10
Eines Nachmittags Anfang Juni erhielt Wallander den Anruf eines alten Mannes, den er nur mit Mühe in seiner Erinnerung lokalisieren konnte. Auch wenn der Name sofort in seinem Gedächtnis auftauchte, konnte er ihn zunächst nicht einordnen. Das war nicht so verwunderlich, denn Wallander hatte den Mann seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen, und auch damals nur wenige Male.
Zuletzt hatten sie sich bei der Beerdigung von Wallanders Vater getroffen. Der Mann hieß Sigfrid Dahlberg und war einer der Nachbarn, er hatte dem Vater manchmal mit dem Schneepflug geholfen und den kleinen Schotterweg zu seinem Haus in Ordnung gehalten. Zum Dank hatte er jedes Jahr eins von den Bildern des Vaters bekommen. Wallander hatte gelegentlich seinem Vater klarzumachen versucht, dass es dem Nachbarn möglicherweise zu viel werden konnte, zehn Bilder an den Wänden hängen zu haben, die alle identisch waren. Aber seine Äußerung war mit finsterem Schweigen quittiert worden. Nach dem Tod des Vaters und dem Verkauf des Hauses hatte Wallander keinen Kontakt mehr zur Familie Dahlberg gehabt. Jetzt aber rief der Alte
Weitere Kostenlose Bücher