Wallander 09 - Der Feind im Schatten
seinem Alter lehnte an der Reling eines kleinen Fischerboots und säuberte ein Netz. Er war ganz konzentriert und summte vor sich hin, während er arbeitete. Wallander hätte in diesem Augenblick gern den Platz mit ihm getauscht. Von der Bank zum Netz, vom Polizeipräsidium zu einem schön gelackten Holzboot.
Sein Vater war ihm ein Rätsel gewesen. War er selbst für Linda ebenfalls ein Rätsel? Was würden seine Enkel über ihren Großvater sagen? Würde er nur ein grauer und schweigsamer alter Polizist werden, der in seinem Haus saß und immer weniger Besuch von immer weniger Menschen bekam? Ich fürchte es, dachte er, und ich habe allen Grund dazu. Ich habe meine Freundschaften wahrlich nicht gepflegt.
Jetzt war es in vielen Fällen zu spät. Ein Teil der Menschen, die ihm nahegestanden hatten, war tot. Vor allem Rydberg, aber auch sein alter Freund, der Pferdetrainer Sten Widén. Wallander hatte die Leute nie verstanden, die meinten, man brauche den Umgang mit einem Menschen nicht aufzugeben, nur weil er tot war, das Gespräch gehe weiter, auch wenn jemand begraben war. Ihm war es nicht gelungen. Die Toten waren nur noch Gesichter, an die er sich kaum erinnerte, und ihre Stimmen sprachen nicht mehr zu ihm.
Widerwillig stand er von der Bank auf, er musste zurück ins Präsidium. Die Ermittlung im Fall der Körperverletzung auf der Fähre war abgeschlossen, man hatte einen für schuldig befunden, doch Wallander war sicher, dass es zwei gewesen waren, die die Frau geschlagen hatten. Es war nur ein halber Sieg, ein Mensch wurde verurteilt, ein anderer erhielt Genugtuung, wenn das nach einer solchen Verunstaltung des Gesichts überhaupt möglich war. Aber einePerson schlüpfte durch die Maschen, und Wallander war keineswegs sicher, dass sie nicht in der Lage gewesen wären, eine bessere Ermittlung durchzuführen.
Um drei Uhr am Nachmittag, als Wallander von seinem Ausflug zurückkehrte, lag die Mitteilung auf seinem Schreibtisch, dass Ytterberg ihn dringend zu erreichen versucht habe. Dringend war es immer in Wallanders Berufsleben. Er hatte noch nie eine Mitteilung bekommen, die nicht dringend war. Deshalb rief er nicht sofort zurück, sondern las zunächst ein Rundschreiben der Reichspolizeibehörde, zu dem Lennart Mattson ihn um Stellungnahme gebeten hatte. Es handelte sich um eine der ständigen Umorganisationen, die von oben herab über die Köpfe der Polizeibezirke des Landes verfügt wurden. Jetzt ging es darum, an Feiertagen ein System für erweiterte polizeiliche Präsenz in der Öffentlichkeit zu schaffen, nicht nur in den großen Städten, sondern auch in einer Stadt wie Ystad. Wallander las die Seiten durch, geriet ob der umständlichen und bürokratischen Sprache in Rage und hatte das Gefühl, eigentlich nicht begriffen zu haben, worauf das Ganze hinauslief. Er schrieb einen nichtssagenden Kommentar und steckte alles in einen Umschlag, den er nach Feierabend beim Verlassen des Präsidiums in das Postfach des Polizeipräsidenten legen würde.
Dann rief er bei Ytterberg in Stockholm an, der sich sofort meldete.
»Du hast angerufen«, sagte Wallander.
»Jetzt ist sie auch fort.«
»Wer?«
»Louise. Louise von Enke. Jetzt ist sie auch verschwunden.«
Wallander hielt den Atem an. Hatte er richtig gehört? Er bat Ytterberg, noch einmal zu wiederholen, was er gesagt hatte.
»Louise von Enke ist verschwunden.«
»Was ist geschehen?«
Wallander hörte Papier rascheln. Ytterberg suchte in seinen Notizen. Er wollte eine präzise Darstellung geben.
»Seit einigen Jahren haben die von Enkes eine Reinigungshilfe aus Bulgarien, sie hat eine Arbeitserlaubnis und heißt genauso wie die Hauptstadt, Sofia, wenn ich mich nicht irre. Sie kommt montags, mittwochs und freitags, jeweils drei Stunden am Vormittag. Am letzten Montag war sie da, und alles schien wie immer zu sein. Diese bulgarische Putztante weckt Vertrauen, wenn man mit ihr spricht. Ihre Angaben sind klar und deutlich, sie macht einen durch und durch zuverlässigen Eindruck. Außerdem spricht sie erstaunlich gut Schwedisch, mit einer faszinierenden Beimischung von Söderslang, woher sie den auch haben mag. Als sie gegen ein Uhr am Montag die Wohnung verließ, hatte Louise gesagt, dass sie sich wie üblich am Mittwoch wiedersehen würden. Als Sofia am Mittwoch um neun Uhr in die Wohnung kam, war sie verlassen. Das war durchaus normal, Louise war nicht immer zu Hause, Sofia dachte sich also nichts dabei. Aber als sie heute Morgen in die Wohnung kam,
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