Wallander 09 - Der Feind im Schatten
als die in meiner eigenen Sprache.
»Es war vor bald fünfzig Jahren, genauer gesagt im August 1961«, sagte Atkins mit seiner leisen Stimme. »An einem Ort, den man sich nicht unbedingt als Treffpunkt für zwei junge Marineoffiziere vorstellt. Ich war gemeinsam mit meinem Vater, der Armeeoberst war, nach Europa gereist. Er wollte mir Berlin zeigen, die kleine isolierte Festung mitten in der russischen Zone. Wir flogen mit Pan Am von Hamburg, glaube ich. Die Maschine war voller Militärs, es waren fast keine Zivilisten an Bord, abgesehen von einigen dunkel gekleideten Geistlichen. Die Lage war gespannt, aber als wir nach Berlin kamen, standen sich die Panzer aus dem Westen und die aus dem Osten jedenfalls nicht wie kampfbereite Raubtiere gegenüber. Eines Abends gerieten mein Vater und ich in der Nähe der Friedrichstraße in einen Massenauflauf. Uns gegenüber rollten ostdeutsche Soldaten Stacheldraht aus und errichteten eine Barriere aus Ziegeln und Zement. Neben mir stand ein junger Mann in meinem Alter, auch in Uniform. Ich fragte ihn, woher er komme. Er antwortete, aus Schweden, und das war also Håkan. So begegneten wir uns. Wir standen da und sahen, wie Berlin durch eine Mauer geteilt wurde, ein Stück der Welt wurde amputiert, könnte man sagen. Ulbricht, der ostdeutsche Führer, erklärte, es handle sich um eine Maßnahme für ›die Rettung des Friedens‹ und um ›den Grundstein für die weitere Blüte dessozialistischen Staates‹. Aber an ebenjenem Tag, an dem die Berliner Mauer errichtet wurde, sahen wir eine alte Frau dastehen und weinen. Sie war ärmlich gekleidet, sie hatte eine kräftige Narbe im Gesicht, vielleicht war eins ihrer Ohren eine Art Attrappe aus Plastik, die unter ihrem Haar befestigt war, das fragten wir uns hinterher, doch keiner von uns war sich sicher. Aber was wir beide nie vergessen sollten, war, wie sie eine Hand mit einer hilflosen Geste gegen diese Menschen ausstreckte, die vor ihren Augen eine Mauer errichteten. Diese arme Frau war nicht an ein Kreuz genagelt, aber sie streckte die Hand aus, und sie streckte sie gegen uns aus. Ich glaube, in diesem Augenblick verstanden wir beide unsere Aufgabe, die freie Welt frei zu halten und aufzupassen, dass nicht noch mehr Länder hinter gefängnisgleichen Mauern landeten. Noch überzeugter waren wir einige Wochen später, als die Russen ihre Atomwaffenversuche wieder aufnahmen. Da war ich schon wieder nach Groton zurückgekehrt, wo ich stationiert war, und Håkan hatte sich in den Zug zurück nach Schweden gesetzt. Aber wir hatten unsere Adressen ausgetauscht, und das war der Beginn einer immer noch bestehenden Freundschaft. Håkan war damals achtundzwanzig, ich war gerade siebenundzwanzig Jahre alt geworden. Siebenundvierzig Jahre sind eine lange Zeit.«
»Hat er Sie in Amerika besucht?«
»Er kam oft. Er war bestimmt fünfzehn Mal bei uns, wenn nicht öfter.«
Die Antwort erstaunte Wallander. Er hatte geglaubt, Håkan von Enke sei höchstens ein oder zwei Mal in den USA gewesen. Hatte Linda das gesagt? Oder hatte er es sich eingebildet? Auf jeden Fall wusste er jetzt, dass es falsch war. »Das macht ungefähr eine Reise jedes dritte Jahr«, sagte er.
»Er war ein großer Freund Amerikas.«
»Blieb er jedes Mal lange?«
»Selten weniger als drei Wochen. Louise war immer dabei.Meine Frau und sie verstanden sich gut. Wir freuten uns immer, wenn sie uns besuchen wollten.«
»Sie wissen vielleicht, dass ihr Sohn Hans in Kopenhagen lebt?«
»Ich treffe ihn heute Abend.«
»Und Sie wissen natürlich auch, dass er mit meiner Tochter zusammenlebt?«
»Ich weiß. Aber Linda treffe ich bei einer anderen Gelegenheit. Hans arbeitet viel. Wir treffen uns irgendwann nach zehn in meinem Hotel. Morgen fliege ich nach Stockholm, um Louise zu besuchen.«
Der Regen hatte aufgehört. Eine Passagiermaschine im Landeanflug auf Sturup flog in geringer Höhe übers Haus. Die Fensterscheiben klirrten.
»Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?«, fragte Wallander. »Sie kannten ihn besser als ich.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Atkins. »Es widerstrebt mir, eine solche Antwort zu geben. Zögern entspricht nicht meiner Art. Aber ich kann nicht glauben, dass er freiwillig verschwindet und seine Frau und seinen Sohn, und jetzt auch noch ein Enkelkind, in Angst und Unsicherheit zurücklässt. Ich hisse die weiße Flagge, obwohl ich es ganz und gar nicht möchte.«
Atkins leerte seine Tasse und stand auf. Es war Zeit für ihn, nach Kopenhagen
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