Wallander 09 - Der Feind im Schatten
konnte bis morgen warten.
Da es ein warmer und stiller Abend war, nahm er zu Hause sein Abendbrot mit hinaus und aß im Garten. Jussi lag zu seinen Füßen und schnappte die Stücke auf, die vonWallanders Gabel rutschten. Auf den umgebenden Feldern leuchtete gelb der Raps. Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, dass der lateinische Name von Raps Brassica napus lautete. Die Wörter hatten sich ihm eingeprägt. Mit Unbehagen erinnerte er sich plötzlich an einen Vorfall vor vielen Jahren, als sich eine verzweifelte junge Frau in einem Rapsfeld angezündet und das Leben genommen hatte. Aber er schob den Gedanken daran fort. Es musste doch möglich sein, sich einen Abend ohne Gedanken an Gewaltopfer, Erniedrigte und Tote zu gönnen.
Doch der Gedanke an die Schwester ging ihm nicht aus dem Kopf. Er versuchte, das sie umgebende Schweigen zu deuten, versuchte auch, sich vorzustellen, wie Mona und er reagiert hätten, wenn sie ein Kind bekommen hätten, das vom ersten Tag an auf die Pflege durch fremde Menschen angewiesen gewesen wäre. Ihn schauderte bei der Vorstellung, zu der er sich eigentlich in keiner Weise verhalten konnte. So saß er in Gedanken versunken da, als er das Telefon klingeln hörte.
Jussi spitzte die Ohren. Es war Linda. Sie sprach leise und sagte, dass Hans schliefe. »Er ist völlig am Ende«, sagte sie. »Am meisten quält er sich damit, dass er jetzt niemanden hat, den er nach ihr fragen kann.«
»Ich bin dabei, sie ausfindig zu machen«, sagte Wallander. »Binnen weniger Tage sollte ich erfahren haben, wo sie lebt.«
»Verstehst du, wie Håkan und Louise sich so verhalten konnten?«
»Nein. Aber vielleicht ist es die einzige Art und Weise, es auszuhalten. So zu tun, als ob ein so schwer behindertes Kind nicht existierte.«
Dann beschrieb Wallander ihr das Rapsfeld und den Horizont. »Ich freue mich schon auf die Zeit, wenn Klara hier herumspringt«, sagte er.
»Du solltest dir trotzdem eine Frau besorgen.«
»Man besorgt sich keine Frau!«
»Du findest auch keine, wenn du dich nicht anstrengst! Die Einsamkeit wird dich von innen zerfressen. Du wirst ein griesgrämiger Greis werden.«
Wallander blieb noch bis nach zehn Uhr sitzen und dachte nach über das, was Linda gesagt hatte. Aber trotz allem schlief er ruhig und wachte erholt um kurz nach fünf auf.
Schon um halb sieben betrat er sein Büro. Da hatte sich bereits ein Gedanke in seinem Kopf zu regen begonnen. Er ging seinen Kalender bis Mittsommer durch und stellte fest, dass ihn eigentlich nichts in Ystad festhielt. Um die Pokergeschichte konnten andere sich kümmern. Weil Lennart Mattson auch ein Frühaufsteher war, klopfte er bei ihm an. Mattson war gerade gekommen, als Wallander eintrat und um drei Tage Urlaub bat. Vom nächsten Tag an drei Tage.
»Ich sehe ein, dass es ein bisschen plötzlich kommt«, sagte er. »Aber ich habe einen privaten Grund. Außerdem kann ich mich an den Feiertagen um Mittsommer zur Verfügung stellen, obwohl ich da eine Woche Urlaub beantragt hatte.«
Lennart Mattson machte keine Schwierigkeiten. Wallander bekam seine Urlaubstage. Er ging zurück in sein Zimmer und suchte im Internet, wo Amalienborg und der Niklasgård lagen. Nach den Informationen, die er über die beiden Anstalten fand, konnte er nicht einschätzen, welche die richtige war. In beiden schienen Menschen mit ganz unterschiedlichen, aber schweren Funktionsstörungen gepflegt zu werden.
Am Abend ging er zu dem Gartenfest bei Kristina Magnusson. Er wusste, dass Linda auch zugesagt hatte, und gegen neun Uhr stand sie am Gartentor. Klara war endlich eingeschlafen, und Hans war zu Hause. Wallander zog Linda sofort zur Seite und erzählte ihr von dem Ausflug, den er machen würde; gleich morgen früh wollte er aufbrechen. Er stand mit einem Glas Selterwasser in der Hand da, und Linda sagte, sie habe fast damit gerechnet, dass er sich soentscheiden würde. Gegen zehn Uhr verließ Wallander das Fest. Kristina Magnusson begleitete ihn zur Straße. In einer plötzlich aufflammenden Lust hätte er sie beinahe an sich gezogen, doch es gelang ihm, sich zu beherrschen. Sie hatte einiges getrunken und schien seine unterdrückten Absichten gar nicht zu bemerken.
Schon vor dem Fest hatte er Jussi zu seinen Nachbarn gebracht. Der Zwinger lag verlassen da. Wallander legte sich aufs Bett, stellte den Wecker auf drei Uhr und schlief ein paar Stunden. Um vier Uhr stieg er in den Wagen und fuhr nach Norden. Die Morgendämmerung war von Dunst verhangen, aber es
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