Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Rollstuhl saß ein Mann, ein junger Mann, glaubte er zu sehen, dessen Kopf nach hinten gefallen war, als gäbe der Nacken ihm keinerlei Halt. Wallander ließ das Fernglas mit einem Gefühl des Unbehagens sinken. Er setzte sich wieder in den Wagen und fuhr zum Hauptgebäude, wo die Verwaltung ihn auf Schildern, die in verschiedene Richtungen zeigten, willkommen hieß. Wallander betrat eine Anmeldung, betätigte eine Klingel und wartete. Aus dem Inneren war ein Radio zu hören. Eine Frau trat aus der Tür eines angrenzenden Raums.Sie war um die vierzig, und Wallander war auf der Stelle gebannt von ihrer Schönheit. Sie trug kurz geschnittenes schwarzes Haar, hatte dunkle Augen und sah ihn lächelnd an. Sie sprach mit fremdem Akzent, den Wallander einem arabischen Land zuordnete. Er zeigte ihr seinen Ausweis und stellte seine Frage.
Die schöne Frau betrachtete ihn immer noch mit einem Lächeln. »Es ist das erste Mal, dass ein Polizist zu uns kommt«, sagte sie, »noch dazu von so weit her. Aber leider darf ich keine Namen herausgeben. Alle, die hier wohnen, haben ein Recht auf Anonymität.«
»Das ist mir klar«, sagte Wallander. »Sollte es nötig werden, muss ich einen Beschluss vom Staatsanwalt besorgen, der mir das Recht gibt, sämtliche Zimmer, sämtliche Unterlagen und sämtliche Namen durchzusehen. Das würde ich lieber vermeiden. Es reicht mir, wenn Sie mit dem Kopf nicken oder den Kopf schütteln. Dann verspreche ich ihnen, keine weiteren Fragen mehr zu stellen.«
Sie überlegte, bevor sie antwortete. »Stellen Sie Ihre Frage«, sagte sie schließlich. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Lebt hier eine Frau mit Namen Signe von Enke? Sie ist ungefähr vierzig Jahre alt und seit ihrer Geburt behindert.«
Sie nickte, ein einziges Mal, das war alles. Aber Wallander brauchte auch nicht mehr. Jetzt wusste er, wo sie war, und musste mit Ytterberg sprechen.
Er hatte sich schon abgewandt, es war ihm gelungen, den Blick von ihr loszureißen, als ihm noch eine Frage einfiel, die sie ihm vielleicht beantworten würde.
Er blickte sie wieder an. »Noch ein Nicken«, sagte er. »Oder ein Kopfschütteln. Wann hatte Signe zuletzt Besuch?«
Sie überlegte, bevor sie antwortete, aber diesmal mit Worten, nicht mit einer Kopfbewegung. »Es ist ein paar Monate her«, sagte sie. »Irgendwann im April. Aber ich kann nachsehen, wenn es wichtig ist.«
»Überaus wichtig«, sagte Wallander. »Es wäre eine große Hilfe.«
Sie ging in das Zimmer, aus dem sie zuvor gekommen war. Nach einigen Minuten kehrte sie mit einem Papier in der Hand zurück. »Am zehnten April«, sagte sie. »Das war ihr letzter Besuch. Danach ist niemand hier gewesen. Sie ist ganz plötzlich ein einsamer Mensch geworden.«
Wallander überlegte. Am zehnten April. Am Tag danach hatte Håkan von Enke seine Wohnung verlassen. Und war nicht zurückgekommen.
»Ich nehme an, es war ihr Vater, der sie an dem Tag besucht hat«, sagte Wallander langsam.
Sie nickte. Klar, er war es.
Wallander verließ den Niklasgård und fuhr nach Stockholm. Er hielt vor dem Haus in der Grevgata und schloss die Wohnungstür mit den Schlüsseln auf, die er von Linda bekommen hatte.
Er musste noch einmal zum Anfang zurückkehren und neu beginnen. Aber zum Anfang wovon?
Er stand lange reglos im Wohnzimmer, versuchte zu verstehen. Aber es gab nichts, was ihn weiterbrachte.
Um ihn her: nur dieses große Schweigen. Eine U-Boot-Tiefe, in der die Unruhe des Meeres nicht zu spüren war.
12
In dieser Nacht schlief Wallander in der verlassenen Wohnung.
Da es warm war, ließ er einige Fenster einen Spalt weit offen stehen. Die Gardinen bewegten sich sacht, und von der Straße waren dann und wann lärmende Menschen zu hören. Wallander dachte, dass er Schatten lauschte, wie man es in kürzlich verlassenen Häusern oder Wohnungen immer tut. Aber Wallander hatte Linda nicht um den Wohnungsschlüssel gebeten, um die Kosten für ein Hotelzimmer zu sparen. Aus Erfahrung wusste er, dass die ersten Eindrücke oft am wichtigsten waren, wenn es um eine Ermittlung ging. Nur selten ergab eine spätere Rückkehr besonders viel Neues. Doch diesmal wusste er, wonach er suchte.
Er war auf Strümpfen umhergeschlichen, um bei den Nachbarn keinen Verdacht zu erregen. Er hatte Håkans Zimmer und Louises Kommoden durchgesehen. Auch das große Bücherregal im Wohnzimmer und andere Schränke und Regale in der Wohnung hatte er untersucht. Als er um neun Uhr am Abend vorsichtig die Wohnung verließ,
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