Wallander 09 - Der Feind im Schatten
»Nein«, sagte er. »Sie klang wie immer.«
»Aber es muss doch einen Zusammenhang geben«, sagte Wallander. »Zuerst verschwindet er, dann sie.«
»Es ist wie bei dem Kinderreim mit den zehn kleinen Negerlein«, sagte Atkins. »Sie verschwinden eins nach demanderen. Jetzt ist die halbe Familie weg. Bleiben noch die beiden Kinder.«
Wallander fuhr zusammen. Hatte er falsch verstanden?
»Es gibt doch nur noch ein Kind«, sagte er vorsichtig. »Oder rechnen Sie Linda dazu?«
»Wir dürfen die Schwester nicht vergessen«, sagte Atkins.
»Die Schwester? Hat Hans eine Schwester?«
»Ja sicher. Sie heißt Signe. Ich weiß nicht, ob ich ihren Namen richtig ausspreche. Ich kann ihn buchstabieren. Sie lebte nicht zu Hause. Warum, weiß ich nicht. Man soll nicht unnötig im Leben anderer Menschen graben. Ich habe sie nie getroffen. Aber Håkan erzählte mir, dass er eine Tochter habe.«
Wallander war viel zu überrascht, um irgendeine Frage zu stellen, und sie beendeten das Gespräch. Er trat ans Fenster und blickte auf den Wasserturm. Es gab eine Schwester, die Signe hieß . Warum hatte niemand etwas von ihr erzählt?
An diesem Abend saß Wallander an seinem Küchentisch und ging seine Aufzeichnungen durch, angefangen bei dem Tag, an dem Håkan von Enke verschwunden war. Aber nirgendwo fand er den geringsten Hinweis auf eine Tochter in der Familie. Signe war nicht vorhanden. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
TEIL 2
Unter der Oberfläche
11
Wallander war empört und entschied sich zu einem für ihn ungewöhnlich direkten Angriff. Er fühlte sich an der Nase herumgeführt von der Familie, in der zwei Personen verschwunden waren und eine dritte gerade neu entdeckt worden war. Er meinte, ein Opfer der üblichen Verlogenheit der Oberklasse geworden zu sein, wo Familiengeheimnisse um jeden Preis verborgen werden sollten. Nach dem Gespräch mit Atkins und dem langen Abend, an dem er noch einmal den Rückwärtsgang eingelegt hatte und mit einer Art wütender Akribie alles durchgegangen war, was seit Håkan von Enkes Fünfundsiebzig-Jahr-Feier geschehen und gesagt worden war, schlief er schwer und rief Linda schon um kurz nach sieben an. Er hatte gehofft, Hans noch zu erwischen, aber gerade an diesem Morgen war er gegen sechs Uhr gefahren.
»Was macht er denn so früh schon?«, fragte Wallander gereizt. »Jetzt sind doch noch keine Banken geöffnet, und es kauft oder verkauft auch noch niemand Aktien.«
»Versuch’s mal mit Japan«, erwiderte Linda. »Oder warum nicht Neuseeland? Die Wirtschaft schläft nie. Offenbar sind an den asiatischen Börsen starke Bewegungen im Gange. Es ist nicht ungewöhnlich, dass er so früh fährt. Dagegen rufst du sonst nicht um sieben Uhr an. Du brauchst nicht auf mich sauer zu sein. Ist etwas passiert?«
»Ich will über Signe reden«, sagte Wallander.
»Wer ist das?«
»Die Schwester deines Mannes.«
Er hörte durch den Hörer ihr Atmen. Jeder Atemzug ein neuer Gedanke.
»Er hat doch keine Schwester.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
Linda kannte ihren Vater und wusste, dass es ihm ernst war. Er würde sie nicht so früh am Morgen anrufen, um einen schlechten Scherz zu machen.
Klara begann, in ihrem Bett zu wimmern.
»Du musst herkommen«, sagte Linda. »Klara ist wach. Morgens ist sie immer schwierig. Ich frage mich, ob sie das von dir hat.«
Als Wallander auf dem Schotterweg vor Lindas Haus bremste, war Klara inzwischen satt und zufrieden, Linda aufgestanden und angezogen. Wallander fand immer noch, dass sie blass und schlapp aussah, und fragte sich, ob ihr was fehlte. Aber natürlich stellte er die Frage nicht laut. Sie war wie er und mochte es nicht, wenn jemand sich einmischte.
Sie setzten sich an den Küchentisch. Wallander kannte das Tischtuch. Es hatte in seinem Elternhaus auf dem Tisch gelegen, später bei seinem Vater in Löderup, und jetzt lag es hier. Als Kind hatte er oft mit dem Finger das komplizierte Muster von roten Fäden im Stoff nachgezogen.
»Erkläre, was du meinst«, sagte sie. »Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Hans hat keine Schwester.«
»Ich glaube dir«, sagte Wallander. »Du weißt von keiner Schwester, ebenso wenig wie ich es tat. Bis jetzt.«
Er erzählte von seinem Telefongespräch mit Atkins und der überraschenden Bemerkung über das Mädchen namens Signe. Vermutlich war es reiner Zufall, dass er die heimliche Schwester erwähnt hatte.
Linda hörte gespannt zu und zog die Augenbrauen immer höher. »Hans hat mir
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