Wallander 09 - Der Feind im Schatten
als die sie in ihrer Ehe auftrat. Sie hatte sich selbst eine Rolle gegeben, die eigentlich nicht zu ihr passte. Ihr Talent lag nicht im Tragischen, vielleicht auch nicht im Komischen, sondern am ehesten in einer Normalität ohne große Gefühlsschwankungen. Jetzt saß sie wieder da und weinte, und Wallander fiel nichts Besseres ein, als eine Rolle Toilettenpapier zu holen, damit sie sich die Tränen abwischen konnte. Nach einer Weile hörte sie auf zu weinen, entschuldigte sich, hatte aber Schwierigkeiten, zu sprechen, ohne zu lallen. Er wünschte, Linda wäre da, die hatte eine ganz andere Art, mit ihr umzugehen.
Gleichzeitig war da aber auch ein anderes Gefühl, das in verbotenen Wellen kam und ging und das er sich nur schwer eingestehen konnte. Eine Lust, ihre Hand zu nehmen und sie ins Schlafzimmer zu ziehen. Ihre Gegenwart erregte ihn in einem Maße, dass nicht viel gefehlt hätte, und er hätte es darauf ankommen lassen. Aber natürlich tat er es nicht. Sie schwankte hinüber zum Hundezwinger, wo Jussi voller Erwartung am Zaun hochsprang. Wallander ging neben ihr, mehr als Leibwächter denn als Begleitung, bereit, sie aufzufangen, falls sie fiele. Bald war der Hund nicht mehr interessant, und sie gingen hinein, weil sie fror. Sie ging durchs ganze Haus, bat ihn, ihr alles zu zeigen , wie sie mit Nachdruck sagte, als besuchte sie eine Galerie. Er hatte alles prächtig eingerichtet, sie fand kaum Worte dafür, wie schön es war, auch wenn er schon längst das grässliche Sofa hätte fortwerfen sollen, das sie schon in der gemeinsamen Wohnung gehabt hatten. Als sie ihr Hochzeitsfoto auf einer Kommode sah, fing sie wieder an zu weinen. Diesmal so unecht, dass er sie am liebsten hinausgeworfen hätte. Aber er ließ sie gewähren, machte Kaffee, stellte eine Flasche Whiskyfort, die auf dem Tisch gestanden hatte, und brachte sie schließlich dazu, sich an den Küchentisch zu setzen.
Und diese Frau habe ich mehr als irgendeine andere in meinem Leben geliebt, dachte Wallander, als sie mit ihren Kaffeetassen dasaßen. Auch wenn ich heute eine andere große Liebe träfe, würde Mona stets die wichtigste Frau in meinem Leben bleiben. Daran ändert sich nichts. Liebe kann vielleicht eine andere Liebe ersetzen, aber die alte Liebe existiert weiter. Man lebt sein Leben mit doppelten Böden, vermutlich damit man nicht sinkt, wenn einer der Böden ein Loch bekommt.
Mona trank ihren Kaffee und wurde auf einmal überraschend nüchtern. Auch daran erinnerte sich Wallander: Sie trat häufig betrunkener auf, als sie eigentlich war.
»Entschuldige«, sagte sie. »Wie ich mich anstelle, ich dränge mich auf. Möchtest du, dass ich gehe?«
»Überhaupt nicht. Ich möchte nur wissen, warum du gekommen bist.«
»Warum bist du so abweisend? Du kannst ja kaum behaupten, dass ich dich besonders häufig behellige.«
Wallander wich vor ihrem drohenden Angriff sofort zurück. Das letzte Jahr mit Mona war ein ständiger Kampf gewesen, in dem er versucht hatte, sich nicht in ihre Welt von Vorwürfen und Drohungen hineinziehen zu lassen. Natürlich hatte sie ihn beschuldigt, das Gleiche zu tun, und er wusste, dass sie recht hatte. Sie waren beide Täter und Opfer zugleich in dem Geflecht, das nur mit einem Schwerthieb wie der Gordische Knoten aufgelöst werden konnte. Scheidung, jeder in seine Richtung.
»Erzähl«, sagte er vorsichtig. »Warum bist du so niedergeschlagen?«
Was folgte, war ein nicht enden wollendes Klagelied, eine Moritat mit unzähligen Strophen, Monas persönliche Variante von Das Kreuz auf Idas Grab und Elvira Madigan , dachte Wallander. Sie hatte vor einem Jahr einen neuenMann getroffen, der im Gegensatz zum vorigen kein Golf spielender Privatier war, dem Wallander unterstellte, sein Geld mit Firmenzerschlagungen und dubiosen Abschreibungsgeschäften verdient zu haben. Nein, der Neue war etwas so Prosaisches wie ein ICA-Kaufmann in Malmö, ein Mann in ihrem Alter, auch er schon einmal geschieden. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis Mona entdeckte, dass auch ein normaler, anständiger Lebensmittelhändler psychopathische Züge aufweisen konnte. Er hatte begonnen, sie zu kontrollieren, hatte verdeckte Drohungen ausgesprochen und sie schließlich sogar physisch misshandelt. Sie war so dumm gewesen zu glauben, dass es vorüberginge und seine Eifersucht sich legen würde. Doch das war nicht geschehen, und jetzt hatte sie mit ihm gebrochen. Da sie fürchtete, der Lebensmittelhändler würde sie verfolgen, konnte sie
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