Wallander 09 - Der Feind im Schatten
es bedeuten, wenn herauskam, dass der russische Bär nicht viel mehr war als ein kleiner streitlustiger Iltis?«
»Die Drohung des Jüngsten Tages würde natürlich abnehmen?«
Sten Nordlander schien beinahe ungeduldig zu sein, als er antwortete. »Militärs sind nie besonders philosophische Naturen. Sie sind praktisch. In jedem fähigen General oder Admiral steckt auch ein guter Ingenieur. Der Jüngste Tag war nicht die vordringlichste Frage. Was glaubst du, welche es war?«
»Die Verteidigungskosten?«
»Richtig. Warum sollte die westliche Welt weiter rüsten, wenn ihr Hauptfeind ausgefallen war? Man findet nicht so ohne weiteres einen neuen Feind der gleichen Güteklasse. China und zu einem gewissen Grad Indien standen natürlich als die Nächsten auf der Liste. Aber zu dieser Zeit war China noch ein militärisch zurückgebliebenes Land. Seine Stärke beruhte zum größten Teil darauf, dass eine scheinbar unendliche Zahl von Soldaten jederzeit in einen Konflikt geworfen werden konnte. Aber das war natürlich kein Motiv für den Westen, weiter hochmoderne Waffen zu entwickeln, die ausschließlich für das Wettrüsten mit Russland gedacht waren. Plötzlich gab es also ein ganz neues Problem. Es war nicht opportun, sogleich alles preiszugeben, was man wusste, dass also der russische Bär unter einer schwerwiegenden Lähmung litt. Es galt, die Fassade aufrechtzuerhalten.«
Sie waren zu einem kleinen Hügel gelangt, von dessen Kuppe aus sie das Meer sehen konnten. Wallander und Linda hatten im Jahr zuvor mit vereinten Kräften eine Bank heraufgetragen, die sie auf einer Auktion für einen winzigen Betrag erstanden hatten. Jetzt setzten sich die Männer, und Wallander rief Jussi, der nur widerwillig näher kam.
»Die Ereignisse, von denen wir jetzt sprechen, spielten sich zu einer Zeit ab, als Russland noch ein ganz realer Gegner war«, fuhr Sten Nordlander fort. »Nicht nur im Eishockey waren wir Schweden überzeugt, die Russen nie besiegenzu können. Wir glaubten steif und fest daran, dass der Feind wie immer aus dem Osten käme und dass wir ein wachsames Auge drauf haben müssten, was er in der Ostsee anstellte. Es war zu jener Zeit, Ende der 1960er Jahre, als das Gerücht aufkam.«
Nordlander blickte um sich, als fürchtete er, belauscht zu werden. In der Nähe der Landstraße nach Simrishamn war ein Mähdrescher bei der Arbeit. Dann und wann drang entferntes Verkehrsrauschen bis zum Hügel hinauf.
»Wir wussten, dass der große Flottenstützpunkt der Russen in Leningrad war. Außerdem hatten sie im Baltikum und in Ostdeutschland eine ganze Reihe weiterer Stützpunkte, mehr oder weniger geheim. Nicht nur wir in Schweden sprengten uns ins Felsgestein, die Deutschen hatten es schon zu Hitlers Zeit getan, und die Russen machten damit weiter, als das Hakenkreuz durch die rote Fahne ersetzt war. Es kam das Gerücht auf, dass auf dem Grund der Ostsee zwischen Leningrad und dem Baltikum ein Kommunikationskabel lag, über das ein großer Teil des wichtigsten Signalverkehrs abgewickelt wurde. Man fand es sicherer, ein eigenes Kabel auszulegen, statt zu riskieren, abgehört zu werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass Schweden in höchstem Grad in diese Vorgänge verwickelt war. Uns wurde Anfang der 1950er Jahre ein Aufklärungsflugzeug abgeschossen, und heute zweifelt niemand mehr daran, dass die Russen abgehört wurden.«
»Du sagst, das Kabel sei ein Gerücht gewesen?«
»Es hieß, es sei Anfang der 1960er Jahre ausgerollt worden, als die Russen wirklich glaubten, ihre Kräfte mit Amerika messen und es sogar überholen zu können. Vergiss nicht, wie verdutzt wir waren, als der Sputnik im Weltraum seine Kreise zog und es zu aller Erstaunen nicht die Amerikaner waren, die ihn hochgeschickt hatten. Die russische Sichtweise hatte eine gewisse Berechtigung. Es war eine Zeit, in der sie es beinahe schafften, gleichzuziehen. Im Nachhineinkönnte man, wenn man Zyniker ist, sagen, dass sie da hätten zuschlagen sollen. Wenn sie einen Krieg hätten provozieren und den Jüngsten Tag hätten herbeiführen wollen, von dem du gesprochen hast. Es soll auf jeden Fall ein Überläufer des ostdeutschen Geheimdienstes gewesen sein, der plötzlich am süßen Leben in London Geschmack gefunden hatte und seinem englischen Pendant die Existenz des Kabels verriet. Die Neuigkeit verkauften die Engländer dann zu einem hohen Preis an ihre amerikanischen Freunde, die ständig mit ausgestreckter Faust dasaßen. Das Problem war, dass man
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