Wallander 09 - Der Feind im Schatten
fragte er.
»Ich weiß nicht.«
»Wie lange muss ich hier liegen?«
»Das weiß ich auch nicht.«
Sie stand auf. Er sah, wie erschöpft sie war, und erkannte mit einer Art verschwommener Klarsicht, dass sie wohl sehr lange bei ihm gesessen hatte.
»Geh nach Hause«, sagte er. »Ich schaffe es jetzt.«
»Ja«, sagte sie. »Du schaffst es. Für diesmal.«
Sie beugte sich über ihn und sah ihm fest in die Augen. »Ich soll von Klara grüßen. Sie findet es auch gut, dass du es geschafft hast.«
Wallander blieb allein im Zimmer. Er schloss die Augen und wollte schlafen. Am liebsten würde er mit dem Gefühl wieder aufwachen, an dem, was geschehen war, keine Schuld zu tragen.
Aber später am Tag musste Wallander sich von seinem Hausarzt, der eigentlich freihatte, aber trotzdem ins Krankenhaus gekommen war, sagen lassen, dass die Zeit vorbei war, in der er die Kontrolle seiner Zuckerwerte vernachlässigen konnte. Wallander war seit fast zwanzig Jahren Dr. Hanséns Patient, und es gab keinerlei Ausflüchte, die der unsentimentale Arzt gelten ließ. Dr. Hansén wiederholte, dass Wallander gern weitermachen könne mit seinem Tanz auf dem Seil, indem er seine Krankheit ignorierte. Dass er allerdings beim nächsten Mal mit Folgen rechnen müsse, für die er eigentlich zu jung sei.
»Ich bin sechzig«, sagte Wallander. »Ist das nicht alt genug?«
»Vor zwei Generationen war man mit sechzig Jahren alt. Aber heute nicht mehr. Der Körper altert, daran können wir nicht viel ändern. Aber normalerweise leben wir fünfzehn bis zwanzig Jahre länger.«
»Und was geschieht jetzt?«
»Sie bleiben bis morgen hier, damit meine Kollegen sehen können, ob Ihre Zuckerwerte sich wieder normalisiert haben und ob Sie keinen sonstigen Schaden davongetragen haben. Dann dürfen Sie nach Hause und weiter sündigen.«
»Ich sündige doch wohl nicht?«
Dr. Hansén war einige Jahre älter als Wallander und nicht weniger als sechsmal verheiratet gewesen. In Ystad munkelte man, dass die Unterhaltszahlungen für seine früherenFrauen ihn zwangen, im Urlaub in norwegischen Krankenhäusern zu arbeiten, weit im Norden in der entlegenen Finnmark, wo kein Mensch sich gern aufhielt, wenn es nicht unbedingt sein musste.
»Vielleicht ist es genau das, was Ihrem Leben fehlt? Eine Prise erfrischende Sündhaftigkeit; ein Polizeibeamter, der über die Stränge schlägt.«
Erst nachdem Dr. Hansén gegangen war, machte Wallander sich klar, wie wenig gefehlt hatte, wie knapp er dem Tod entronnen war. Einen Moment lang überkamen ihn Panik und Todesangst, stärker als je zuvor. Zumindest was Situationen betraf, die nichts mit seinem Beruf zu tun hatten. Die Angst des Polizisten war eine Sache, die des Privatmannes eine andere.
Er dachte wieder an den Augenblick, als er als junger Streifenpolizist in Malmö durch einen Messerstich schwer verletzt worden war. Damals hätte das endgültige Dunkel ihn um Haaresbreite verschlungen. Jetzt hatte er den Atem des Todes wieder im Nacken gespürt, und diesmal war er es selbst gewesen, der dem, was sein Ende hätte bedeuten können, die Tür geöffnet hatte.
An diesem Abend im Krankenhaus fasste Wallander eine Reihe von Vorsätzen, wohl wissend, dass er sie wahrscheinlich nicht würde einhalten können. Sie betrafen gesündere Ernährung, mehr Bewegung, neue Interessen und einen erneuten Kampf gegen die Einsamkeit. Vor allem wollte er jetzt endlich seinen Urlaub nutzen, nicht arbeiten, nicht Lindas verschwundenen Schwiegereltern nachjagen. Sich ausruhen, ausschlafen, lange Spaziergänge am Strand machen, mit Klara spielen.
Als er da in seinem Krankenhausbett lag, entwarf er einen Plan. In den nächsten fünf Jahren würde er zu Fuß die gesamte schonische Küste entlangwandern, vom Ende des Hallandsåsen bis zur Grenze von Blekinge. Im selben Augenblick, in dem der Gedanke geboren wurde, zweifelte erschon daran, ihn je zu verwirklichen. Aber es verschaffte ihm eine gewisse Linderung, einen Traum aufblühen zu lassen, auch wenn er vielleicht wieder verblassen würde.
Vor einigen Jahren hatte er bei einem Abendessen zu Hause bei Martinsson mit einem pensionierten Studienrat gesprochen, der von seiner Wanderung auf dem klassischen Pilgerpfad nach Santiago de Compostela erzählt hatte. Wallander hatte sofort Lust bekommen, die Wanderung selbst zu machen, etappenweise, vielleicht auf fünf Jahre verteilt. Er hatte sogar angefangen zu trainieren und einen Rucksack zu tragen, den er mit Steinen beschwert hatte,
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