Wallander 09 - Der Feind im Schatten
eine Mutter habe, die sich praktisch zu Tode säuft.«
Sie streichelte seine Wange, und sie umarmten sich.
»Ohne dich hätte ich es nicht geschafft«, sagte er.
»Bald kann Klara mit dir hier allein sein. In ein, zwei Jahren. Das geht schnell.«
Wallander winkte ihnen nach und sammelte Geschirr und Abfall zusammen. Dann tat er etwas, was vielleicht nur ein- oder zweimal im Jahr vorkam, er suchte eine Zigarre und steckte sie sich draußen im Hof an.
Es wurde kühl. Seine Gedanken schweiften. Er dachte an seine ehemaligen Klassenkameraden aus der Schulzeit. Wie war ihr Leben verlaufen? Vor einigen Jahren hatte es ein Klassentreffen zu einem runden Jubiläum gegeben, aber er hatte keine Lust gehabt, daran teilzunehmen. Jetzt bereute er es. Es hätte sein eigenes Leben in eine neue Perspektive rücken können, zu sehen, was aus den anderen geworden war. Er legte die Zigarre zur Seite und suchte in einer Kiste ein Klassenfoto von 1962 heraus, seinem letzten Schuljahr. Er erinnerte sich an die Gesichter und fast an alle Namen. Ein Mädchen, das Siv hieß, die Schüchternste der Schüchternen, war ein mathematisches Genie gewesen. Er selbst stand in der oberen Reihe, als Vorletzter auf der linken Seite, mit kurz geschorenen Haaren und einem vagen Lächeln auf den Lippen. Er trug einen grauen Pulli und darunter ein Flanellhemd.
Jetzt sind wir sechzig, dachte er. Unser Leben gleitet langsamin sein letztes Drittel hinüber. Besonders viel Neues erwartet uns nicht mehr.
Bis halb zwei saß er draußen, hörte aus der Ferne für einen Augenblick Musik, vielleicht war es der Calle Schewens Vals, aber er war nicht sicher. Dann ging er ins Bett und schlief bis weit in den Vormittag. Im Bett liegend, blätterte er weiter in den Bibliotheksbüchern. Plötzlich setzte er sich auf. Er war in einem Buch über amerikanische U-Boote und ihr ständiges Kräftemessen mit den russischen Pendants während des Kalten Krieges auf ein paar Schwarzweißfotos gestoßen.
Er starrte auf ein Bild und merkte, wie sein Herz schneller schlug. Es bestand kein Zweifel. Auf dem Bild war genau so ein Gegenstand zu sehen, wie er ihn von Bokö mitgebracht hatte. Wallander sprang aus dem Bett und zog den großen Zylinder hinter einem Schuhregal hervor, wo er ihn versteckt hatte.
Mithilfe eines englischen Wörterbuchs vergewisserte er sich, dass er in dem Kapitel mit dem Foto nichts falsch verstand. Es handelte von James Bradley, dem Chef des U-Boot-Kommandos der amerikanischen Flotte zu Beginn der 1970er Jahre. Er war dafür bekannt, häufig die Nächte in seinem Büro im Pentagon zu verbringen und sich neue Methoden auszudenken, um mit den Russen die Kräfte zu messen. Eines Nachts, als das riesige Gebäude nahezu verlassen dalag, abgesehen von den Wachen, die ständig in den Korridoren auf und ab wanderten, hatte er eine Idee. Sie war so kühn, dass er damit direkt zu Präsident Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger gehen musste. Eine Legende zu jener Zeit besagte, dass Kissinger selten länger als fünf und nie länger als zwanzig Minuten jemandem zuhörte, der etwas vorzutragen hatte. Bradley redete über fünfundvierzig Minuten. Als Bradley ins Pentagon zurückfuhr, war er überzeugt, dass man ihm das notwendige Geld und die erforderliche Ausrüstung bewilligen würde. Kissinger hatte nichtsversprochen, aber Bradley hatte gesehen, dass er zutiefst fasziniert gewesen war.
Es wurde binnen kurzer Zeit beschlossen, das U-Boot Halibut für das höchst geheime Projekt einzusetzen. Die Halibut gehörte zu den größten U-Booten der amerikanischen Flotte. Wallander staunte nur, als er die Details über Gewicht, Länge, militärische Ausrüstung und Anzahl der Offiziere und Mannschaften las. Theoretisch konnte die Halibut ein ganzes Jahr ununterbrochen im Einsatz sein, wenn sie nur dann und wann auftauchte, um Frischluft und Proviant aufzunehmen. Proviant zu ergänzen nahm auf offener See nur eine Stunde in Anspruch. Aber um ihren Auftrag durchführen zu können, waren noch Umbauten erforderlich. Sie musste mit einer Druckkammer für die Taucher ausgestattet werden, die auf dem Meeresboden den schwierigsten Teil der Aufgabe zu bewältigen hatten.
Im Grunde war Bradleys Idee sehr einfach. Damit die Stabsmitglieder an Land untereinander und mit den Atomwaffen tragenden U-Booten kommunizieren konnten, die von der Basis in Petropawlowsk auf der Kamtschatka-Halbinsel ausliefen, hatten die Russen ein Kabel durch das Ochotskische Meer gelegt. Bradleys Plan
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