Wallander 10 - Wallanders erster Fall
auf der Straße vorbei und störten für einen Augenblick die Musik.
Er stellte die Kaffeetasse ab. Dann begann er mit der mühsamen, aber befriedigenden Arbeit des Retuschierens. Langsam veränderte sich das Gesicht.
Er brauchte mehr als zwei Stunden.
Daß es das Gesicht des Ministerpräsidenten war, konnte man noch erkennen. Doch was war mit ihm geschehen? Er stand auf und hängte das Bild an die Wand. Richtete eine Lampe darauf. Im Radio lief Strawinskys
Sacre du printemps
. Die dramatische Musik paßte gut, fand er, als er sein Werk in Augenschein nahm. Das Gesicht war nicht mehr dasselbe.
Jetzt blieb noch das Wichtigste. Der befriedigendste Teil seiner Arbeit. Nun würde er das Bild schrumpfen lassen. Es klein und unbedeutend machen.
Er legte es auf die Glasplatte und richtete das Licht aus. Machte das Bild kleiner und kleiner. Die Details wurden zusammengezogen, blieben aber scharf. Erst als das Gesicht undeutlich zu werden begann, hörte er auf.
Er war endlich am Ziel.
Es war fast zwölf Uhr, als das fertige Bild vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Das verzerrte Gesicht des Ministerpräsidenten war jetzt nicht größer als ein Paßfoto. Wieder einmal hatte er einen dieser machtbesessenen Menschen auf Proportionen zurechtgestutzt, die angemessener waren. Aus großen Männern machte er kleine. In seiner Welt war niemand größer als er selbst. Er veränderte ihre Gesichter. Machte sie klein und lächerlich. Durch ihn wurden sie zu bedeutungslosen Insekten.
|191| Er nahm das Album hervor, das er im Schreibtisch aufbewahrte. Blätterte darin bis zur ersten leeren Seite. Dort klebte er das von ihm manipulierte Bild ein. Mit einem Füller schrieb er das Datum darunter.
Er lehnte sich im Stuhl zurück. Wieder hatte er ein Bild fertiggestellt und eingeklebt. Es war ein gelungener Abend. Das Resultat war gut. Und nichts hatte ihn gestört. Keine unruhigen Gedanken waren in seinem Kopf umhergewirbelt. Es war ein Abend in der Kathedrale, an dem alles Ruhe und Frieden geatmet hatte.
Er legte das Album zurück und verschloß die Schublade. Auf Strawinskys
Sacre du printemps
war Händel gefolgt. Manchmal ärgerte ihn die Unfähigkeit der Programmgestalter, weiche Übergänge zu schaffen.
Er stand auf und schaltete das Radio ab. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.
Im gleichen Augenblick hatte er das Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Er bewegte sich nicht. Alles war still. Schließlich schaltete er die Kaffeemaschine aus und begann die Lampen auszumachen. Dann hielt er erneut inne. Etwas war nicht in Ordnung. Er hatte ein Geräusch aus dem Atelier gehört. Plötzlich bekam er Angst. War jemand in den Laden eingebrochen? Er ging auf Zehenspitzen zur Tür und lauschte. Alles war still. Ich bilde mir etwas ein, dachte er ärgerlich. Wer sollte in ein Fotoatelier einbrechen, in dem nicht einmal Fotoapparate verkauft wurden? Kameras, die zu stehlen sich lohnen würde?
Er lauschte wieder. Nichts. Er nahm die Jacke vom Haken und zog sie an. Die Uhr an der Wand zeigte neunzehn Minuten vor zwölf. Um diese Zeit pflegte er seine Kathedrale abzuschließen und nach Hause zu gehen. Er blickte sich noch einmal um, bevor er die letzte Lampe löschte. Anschließend öffnete er die Tür. Das Atelier lag im Dunkeln. Er drückte auf den Lichtschalter. Es war, wie er gedacht hatte. Da war niemand. Er machte das Licht wieder aus und wendete sich zur Tür.
Dann ging alles sehr schnell.
Plötzlich trat jemand aus der Dunkelheit auf ihn zu. Jemand, der hinter einem der heruntergerollten Hintergründe gestanden hatte, die er für seine Atelierfotos benutzte. Er konnte nicht erkennen, |192| wer es war. Weil der Schatten den Ausgang blockierte, konnte er nur eins tun. Zurück ins Hinterzimmer flüchten und die Tür abschließen. Dort war auch ein Telefon, und er konnte um Hilfe telefonieren.
Er machte kehrt, aber er kam nicht bis zur Tür. Der Schatten bewegte sich schneller. Etwas traf ihn am Hinterkopf. Und bewirkte, daß die Welt zuerst in einem weißen Licht explodierte und dann vollkommen weiß wurde.
Er war tot, bevor sein Körper auf dem Fußboden aufschlug.
Es war genau siebzehn Minuten vor Mitternacht.
Die Putzhilfe hieß Hilda Waldén. Kurz nach fünf Uhr kam sie zu Simon Lambergs Fotoatelier, wo sie ihre Morgenschicht begann. Sie stellte ihr Fahrrad vor dem Laden ab und schloß es sorgfältig mit einer Kette an. Es nieselte, und es war kälter geworden. Sie fröstelte, als sie den richtigen Schlüssel heraussuchte.
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