Wallander 10 - Wallanders erster Fall
sechs Jahre her.
Er blieb vor einem Schaufenster stehen und betrachtete sein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Das Leben war, wie es war. Eigentlich konnte er nicht klagen. Wenn er noch zehn oder fünfzehn Jahre gesund bliebe, dann ...
Er schüttelte die Gedanken über den Lauf des Lebens ab und ging weiter. Ein böiger Wind wehte, und er zog die Jacke fester um sich. Er ging weder schnell noch langsam. Er hatte es nicht eilig. An zwei Abenden in der Woche kam er hierher in sein Atelier. Das waren die heiligen Stunden in seinem Leben. Zwei Abende, die er vollkommen ungestört mit seinen eigenen Bildern im Raum hinter dem Atelier verbringen konnte.
Er war am Ziel. Bevor er die Ladentür aufschloß, betrachtete er sein Schaufenster mit einer Mischung aus Mißmut und Irritation. Er hätte schon längst neu dekorieren sollen. Selbst wenn er kaum neue Kunden anlocken würde, müßte er an der Regel festhalten, die er sich vor mehr als zwanzig Jahren selbst gegeben hatte. Einmal im Monat sollte er die ausgestellten Fotografien auswechseln. Jetzt waren fast zwei Monate vergangen. Früher, als er noch einen Verkäufer beschäftigt hatte, war mehr Zeit gewesen, sich dem Fenster zur Straße zu widmen. Dem letzten Verkäufer hatte er vor fast vier Jahren gekündigt. Es war zu teuer geworden. Außerdem konnte er die anfallende Arbeit auch alleine bewältigen.
Er schloß auf und betrat den Laden. Das Atelier lag im Dunkeln. Er hatte eine Putzfrau, die dreimal in der Woche kam. Sie hatte einen eigenen Schlüssel und pflegte schon um fünf Uhr morgens sauberzumachen. Weil es während des Vormittags geregnet hatte, |189| war der Fußboden schmutzig. Er mochte keinen Schmutz. Also machte er das Licht nicht an, sondern ging direkt in sein Atelier und weiter in den hintersten Raum, in dem er seine Bilder entwickelte. Er schloß die Tür und machte das Licht an. Hängte seine Jacke auf. Stellte das Radio an, das auf einem kleinen Wandregal stand. Er hatte immer einen Sender eingestellt, auf dem er klassische Musik hören konnte. Dann stellte er die Kaffeemaschine an und wusch eine Tasse ab. Ein Wohlgefühl begann sich in ihm auszubreiten. Das Zimmer hinter dem Atelier war seine Kathedrale, sein heiliger Raum. Niemand durfte ihn betreten außer seiner Putzhilfe. Hier befand er sich im Mittelpunkt der Welt. Hier war er allein. Alleinherrscher.
Während er darauf wartete, daß der Kaffee durchlief, dachte er an das, was ihn erwartete. Er bestimmte immer im voraus, mit welcher Arbeit er den Abend verbringen wollte. Er war ein methodischer Mensch, der nichts dem Zufall überließ.
An diesem Abend war der schwedische Ministerpräsident an der Reihe. Es war seltsam, daß er ihm bisher noch keinen Abend gewidmet hatte. Aber heute hatte er sich auf ihn vorbereitet. Seit mehr als einer Woche hatte er die Tageszeitungen sorgfältig nach einem Bild durchsucht, das er benutzen konnte. In einer der Abendzeitungen hatte er es entdeckt und sofort gewußt, daß es das richtige war. Es erfüllte alle seine Wünsche. Er hatte es vor ein paar Tagen abfotografiert. Jetzt lag es in einer Schreibtischschublade. Er goß sich Kaffee ein und summte die Musik mit. Gerade wurde eine Klaviersonate von Beethoven gespielt. Er hörte lieber Bach als Beethoven. Am liebsten Mozart. Doch er konnte nicht leugnen, daß die Klaviersonate schön war.
Er setzte sich an den Schreibtisch, richtete die Lampe aus und schloß die linke obere Schublade auf. Dort lag das Foto des Ministerpräsidenten. Er hatte das Bild vergrößert, wie immer. Ein bißchen größer als ein A 4-Bogen . Er legte es vor sich auf den Tisch, trank einen Schluck Kaffee und betrachtete das Gesicht. Wo sollte er anfangen? Wo sollte er mit dem Schrumpfen beginnen? Der Mann auf dem Bild lächelte und schaute nach links. In seinem Blick lag eine Spur von Beunruhigung oder Unsicherheit. Er beschloß, sich als erstes die Augen vorzunehmen. Sie würden schielen |190| und kleiner werden. Wenn er den Vergrößerungsapparat schräg stellte, würde das Gesicht außerdem in die Länge gezogen. Er konnte auch versuchen, das Papier mit einer Wölbung in den Vergrößerungsapparat zu bringen, und sehen, welcher Effekt sich dabei ergab. Dann würde er schneiden und kleben und auf diese Weise den Mund verschwinden lassen. Oder ihn vielleicht zunähen. Politiker redeten immer zuviel.
Er trank seinen Kaffee aus. Die Uhr an der Wand zeigte Viertel vor neun. Ein paar lärmende Jugendliche gingen draußen
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