Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Gegenden ziehen. Jeden Tag ihres Lebens müssen sie gegeneinander kämpfen und eine Schau voller Schmerz und Gewalt abziehen, doch wenn man ganz genau hinschaut, dann schlagen sie sich überhaupt nicht. Und sobald die Zuschauer alle gegangen sind, bringt der Ältere, der womöglich nicht verheiratet ist, seinen Chiton zum Zelt des Jüngeren hinüber, damit dessen Frau das Kleidungsstück für ihn ausbessern kann.
Dennoch schienen wir abgesehen von dem Pech, miteinander verheiratet zu sein, als einzige Gemeinsamkeit zu haben, einen nichtendenwollenden Kampf gegeneinander zu führen. Sie wissen, wie sich junge Ehemänner 308
und -frauen ständig den Kopf zermartern, um sich kleine Freuden und Überraschungen füreinander auszudenken –
eine hübsche altmodische Grashüpferbrosche oder eine neue Art, Anschovis zuzubereiten. Wir hingegen schienen genausoviel Zeit und Mühe dafür aufzuwenden, um uns neue Zurechtweisungen, Beleidigungen und Methoden, den anderen zu ärgern, auszudenken, allerdings niemals etwas, das zu sehr weh tat. Wenn ich einen Fischhändler eine besonders wenig schmeichelhafte Bemerkung über das äußere Erscheinungsbild seiner weiblichen Kundschaft machen hörte, pflegte ich sie auf dem Nachhauseweg aus Angst, sie zu vergessen, immer wieder vor mich hin zu flüstern. Und wann immer vom Abschreiber ein Buch für mich eintraf, pflegte es Phaidra als erste durchzulesen und dann mit Kohle neben jede Stelle, die Klytaimnestra oder Medeia oder irgendeine andere Heldin betraf, die ihren Ehemann getötet oder verwundet hatte, mit einem kleinen Zeichen zu markieren. Nachts taten wir selten etwas anderes als schlafen, und wenn wir zusammen ins Bett stiegen, pflegten wir jeder auf der Seite zu liegen und verbissen die jeweilige Wand anzustarren. Am Morgen geschah es allerdings häufig, daß wir die Gesichter einander zugewandt hatten, und normalerweise lag Phaidra auf meinem Arm, so daß ich von der Taubheit darin wach wurde. Gewöhnlich fingen wir dann noch halb im Schlaf zu streiten an, bis einer von uns vor Wut aus dem Bett sprang und sich waschen ging. Und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen einer von uns beiden Lust verspürte, verweigerte sich der andere nie, sondern machte lieber ein paar abfällige Bemerkungen oder stellte sich schlafend, bis der unbeholfene Vorgang vorüber war. Ich 309
war mir ziemlich sicher, daß Phaidra es aufgegeben hatte, sich mit anderen Männern zu treffen (obwohl sie das vehement abstritt), wohingegen ich nie einen Sinn darin sehen konnte, hinter Flötistinnen und Dienstmädchen herzulaufen, die sich nie waschen und einem ewig mit ihrem Gezeter um Geld in den Ohren liegen.
Alles dies ging mir durch den Kopf, während ich dasaß, und ich vergaß völlig die Härte des Sitzes (ich hatte vergessen, ein Kissen mitzubringen) und die unglaubliche Langweiligkeit des Stückes – und sogar meine Angst vor Phrynichos. Als ich schließlich wieder zu mir kam, war der König (oder wer immer das sein sollte) bereits umgebracht oder geblendet oder in was auch immer verwandelt worden, und der Chor befand sich schon in der zweiten Klagerunde. Ich verbannte sämtliche Gedanken an Phaidra aus dem Kopf und sah mir die Zuschauer genauer an.
Es beruht wahrscheinlich nur auf Einbildung, aber ich glaube, daß ich allein durch bloßes Hinschauen sagen kann, ob eine feindliche Linie siegen oder fliehen wird oder ob ein Publikum voraussichtlich freundlich gesinnt ist oder nicht. Über das Zuschauerverhalten kann man eine ganze Menge im voraus herausbekommen. Ist es ein schlechtes Jahr gewesen oder hat der Feind die Ernten verbrannt, dann brennen die Zuschauer darauf, zufrieden zu sein und über alles, was nur ansatzweise Ähnlichkeit mit einem Witz hat, vor Lachen brüllen. Wenn aber die Weinlese gut gewesen oder gerade die Nachricht von einem Flottensieg eingetroffen ist, dann werden sie wie die Geschworenen im Prozeß gegen einen Politiker dasitzen und begierig darauf warten, daß ein kleiner Fehler oder gar eine ganze Panne 310
passiert. Ist das Stück zu gut, um es zu zerreißen, dann zeigen sie gegenüber den Schauspielern keine Gnade. Sind hingegen die darstellerischen Leistungen jeder Kritik erhaben, dann ist es klar, daß das Stück schwach ist und die Kostüme offenbar in letzter Minute aus alten Umhängen und Segeltuch roh zusammengeflickt worden sind. Bei Tragödien ist es natürlich genau andersherum – die Menschen mögen nämlich nichts mehr als Blut und Tod, nachdem sie
Weitere Kostenlose Bücher