Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Gedanken wieder ordnen konnte, fing Sokrates erneut an und hatte ihn bald tief in eine Diskussion über die Bedeutung des Wortes ›Dienst‹ verwickelt, bis Aristophanes auf den Tisch klopfte und die Ordnung wiederherstellte.
Dann wurde das Verhältnis von Wein zu Wasser abermals erhöht, und das Gespräch wandte sich der Dichtung zu, vor allem der komischen Dichtung unter besonderer Berücksichtigung der herausragenden Stellung des Stückes Die Acharner. Das dauerte, wie Sie sich vorstellen können, eine ganze Zeit; Euripides bemühte sich sehr, ein paar höfliche Bemerkungen zu dem umfassenden persönlichen Angriff auf seine Person in dem Stück zu machen, und Philonides, der Chorleiter, erzählte eine lange und witzlose Anekdote über ein Chormitglied, das immer das linke Bein hochwarf, obwohl das rechte dran gewesen 186
wäre. Die ganze Unterhaltung – selbst die langweilige Anekdote – war für mich äußerst spannend, und ich glaube, Aristophanes mußte gemerkt haben, wie gefesselt ich war, denn er schickte seinen Dienstboten mit dem Wein zu mir herüber und sagte in die Runde: »Unser Freund Eupolis hier will Komödiendichter werden.« Er fügte zwar nicht hinzu, ›wenn er mal groß ist‹, aber das wollte er sicherlich andeuten. »Ich finde, wir sollten eine kleine Kostprobe aus seinem Stück Die Verführer oder wie das Ding heißt hören.«
Theoros stieß mir mit dem Ellbogen in die Rippen, und plötzlich hatte ich eine Idee.
»Nein, kommt nicht in Frage«, erwiderte ich leicht nuschelnd. »Es wäre mir peinlich, diesen alten Schund von mir unter dem Dach eines so großen Meisters wiederholen zu müssen. Könnte ich nicht statt dessen die große Rede aus den Acharnern vortragen? Die kann ich auswendig.«
»Vielleicht später«, wandte Aristophanes ein. »Aber erst einmal würden wir gern etwas von dem unsterblichen Eupolis hören. Habe ich recht?«
»Na gut, wenn du darauf bestehst«, erwiderte ich bescheiden. »Mal sehen«, grübelte ich, »ich könnte den Dialog der Ziegenhirten aus Der Hof des Peisistratos vortragen.«
Aristophanes wurde knallrot. »Keine Dialogszene«, wehrte er ab. »Für einen einzelnen Sprecher ist es viel zu schwer, Dialoge richtig vorzutragen. Laß uns etwas aus deinem Stück Die … ehm… Die Entführer hören.«
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»Da gibt es am Ende eine gute Szene«, willigte ich sofort ein. »Eine betrunkene Gesellschaft, unter der sich auch eine thessalische Zauberin befindet.«
Einige der Gäste ahnten bereits, was inzwischen vor sich ging. »Das klingt gut«, sagten sie. »Laß uns die Szene mit der thessalischen Zauberin hören.«
»Diese Szenen mit Zauberinnen sind doch vollkommen überholt, findet ihr nicht?« murrte Aristophanes. »Was ist mit der Parabasel Die würde sich doch wirklich zu hören lohnen, oder?«
Das war ein gefährlicher Moment, doch ich verlor nicht den Kopf. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hatte ich Ihnen erzählt, daß meine Mutter zu sagen pflegte, ich hätte noch vor meinem ersten Satz in Prosa schon in Versform geredet. Nun, unter richtigem Druck kann ich aus dem Stegreif in Versen sprechen – zugegebenermaßen keine sehr guten, aber immerhin in korrektem Versmaß. Ich holte tief Luft, räusperte mich und begann, Anapäste vorzutragen.
Bevor Aristophanes begriff, was ich tat, hatte ich bereits mehrere Zeilen gesprochen, und da war es natürlich schon zu spät, mich aufzuhalten. Das Thema meiner Parabase aus dem Stegreif waren die jedes Jahr wiederkehrenden verleumderischen Beschimpfungen der Konkurrenten bei den Festspielen. Ich begann mit dem gewöhnlichen Angriff auf Kratinos – seine ekelhaften Trinkgewohnheiten und dergleichen –, gab dann ein paar Zeilen über Pherekrates zum Besten, bevor ich das Hauptziel meines Spotts attackierte, nämlich Aristophanes, wobei ich mich, was 188
bösartige Kraftausdrücke und zusammengesetzte Schimpfnamen betraf, auf seine eigenen Angriffe auf Kleon stützte.
Der Sohn von Philippos (sagte ich) stiehlt nicht nur Ziegen, sondern klaut auch von besseren und geistreicheren Dichtern Witze, Szenen und ganze Chöre, die er zufällig in Weinhandlungen und den öffentlichen Bädern aufschnappt und sich dann auf einer kleinen Schreibtafel notiert, die er im Ärmel seines Chitons trägt. Natürlich schreibt er so schnell, daß er hier und da ein falsches Wort aufzeichnet, und weil er zu dumm ist, um wirklich geistreiche Schriften zu verstehen, bemerkt er die Fehler nicht und gibt sie in dem Text wieder, den
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