Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
sie ihm angetan haben!«
Der alte Mann deutete nachdrücklich auf einen winzigen Kratzer direkt über dem linken Auge des Jungen. »Wir sind arme Menschen«, fuhr er fort. »Wir haben unser ganzes Silber verbraucht, um das Gewicht von zehn Minen zusammenzubekommen. Wir besitzen nichts mehr, was wir euch geben könnten. Wenn ihr also den Tribut haben wollt, müßt ihr gehen und ihn euch von diesen Dieben und Räubern holen.« Er drohte einem anderen Bereich des Horizonts mit der Faust und stützte sich schwer auf seinen Stock.
Mehrere meiner Kameraden gaben mißbilligende Laute von sich, aber unser Taxiarchos, der auf diesem Gebiet ein Neuling war, befahl uns, still zu sein, und versicherte dem 230
alten Mann, daß wir noch vor Einbruch der Dunkelheit im Besitz des Silbers wären, wenn er uns einen Führer zur Verfügung stellen würde.
»Den besten in Astypylaia«, entgegnete der alte Mann.
»Meinen Sohn Demetrios hier« – er gab dem zweiten Jungen einen Schubs –, »der kennt nämlich sämtliche Hügel wie eine Bergziege und hat überhaupt keine Angst.
Dem könnt ihr bis ans Ende der Welt folgen.«
Irgendwie hatten wir Soldaten das Gefühl, daß das Ende der Welt unter diesen Umständen wahrscheinlich ein ganz guter Tip war, aber wir hatten Befehl erhalten, still zu sein, und sagten deshalb lieber nichts. Der Taxiarchos rief:
»Seid in fünf Minuten zum Abmarsch bereit!« und begab sich in eins der Häuser, um sich kurz über die Räuber informieren zu lassen. Ich schickte den kleinen Zeus los, um frisches Wasser und etwas Brot zu holen, falls es zu bekommen war, und setzte mich auf einen Felsblock, um meinen Füßen eine Ruhepause zu gönnen. Mein Kopf war unter dem Helm triefnaß, und ich wollte allein sein.
»Das wird bestimmt interessant werden«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich blickte mich um und erkannte Artemidoros, einen der Männer, die schon zuvor auf Samos gewesen waren. Er stammte aus dem gleichen Demos wie ich, und wir hatten uns hin und wieder auf Festspielen gesehen, obwohl ich mich kaum noch an ihn erinnern konnte.
»Wie gefällt dir denn der Dienst als Soldat, junger Eupolis?« fragte er vergnügt. »Das ist schon etwas anderes 231
als mit Kleon und Alkibiades über den Marktplatz zu stolzieren, nicht wahr?«
Ich gab irgendeinen schwachsinnigen Witz zum besten, und er lachte laut. »Sehr gut!« grölte er, nachdem es ihm einigermaßen gelungen war, sich wieder zu beherrschen.
»Ein Mann mit Humor ist im Krieg stets willkommen. Wie ich annehme, wirst du schon sehr bald selbst dahinterkommen.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte ich.
Artemidoros kicherte leise in sich hinein. »Was sich hier gleich abspielen wird, könntest du in eins deiner Stücke einbauen«, schlug er vor, und ihm schien ein Gedanke zu kommen. »Wie war’s, wenn wir alle in deinem nächsten Stück vorkommen? Das wäre doch toll, findest du nicht?«
»Doch, doch, ganz toll sogar«, entgegnete ich. »Weißt du denn, was hier gleich passieren wird?«
Er grinste. »Wie ich dir gesagt habe, war ich schon mal hier und kenne diese Ziegenficker besser als die Gedichte von Homer. Was sich hier abspielt, ist folgendes: Oben in den Bergen gibt es diese Räuber, die sie unbedingt loswerden wollen, und sie haben viel zuviel Schiß, um das selbst in die Hand zu nehmen. Außerdem wollen sie keine Steuern zahlen, was nur recht und billig ist, wenn du mich fragst. Ich bin Demokrat und halte nichts von Steuern.
Darüber hinaus wissen diese Leute ganz genau, wie sie mit uns umzugehen haben, die sind doch daran gewöhnt. Sie tischen uns mal wieder einfach diese alte Geschichte über die Räuber auf, und wir steigen artig in die Berge. Dort verlaufen wir uns, um dann zu erfrieren, oder lassen uns 232
von den Räubern umbringen, was den Dorfbewohnern in jedem Fall die Entrichtung der Steuern erspart. Schnappen wir hingegen die Räuber, kommt das den Dorfbewohnern genauso gelegen, denn dann zahlen sie trotzdem keine Steuern, weil sie einfach behaupten, die Räuber hätten das Silber irgendwo versteckt, und sie wüßten leider nicht, wo.
Also geben wir auf und ziehen ab, und alle sind glücklich und zufrieden.«
Ich starrte ihn entsetzt an. »Menschenskinder! Warum erzählst du das nicht dem Taxiarchos? Wir könnten da oben umgebracht werden.«
Artemidoros schüttelte den Kopf und entgegnete:
»Folgendes mußt du über die Armee lernen, mein Sohn: Man geht nicht einfach zu den Vorgesetzten und erzählt denen irgendwas,
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