Wallentin, Jan
Versuch:
»Vielleicht
sitzen sie zusammen in einem Cafe am Grote Markt. Der Erste Weltkrieg ist
ausgebrochen, aber es besteht noch Hoffnung. Der Mann aus dem Bergwerk hat
eine alte Postkarte mit der Kathedrale darauf bei sich, wie sie aussah, bevor
die Kämpfe begannen. Sie stellt etwas Besonderes für die beiden dar.
Vielleicht geben sie sich ein Versprechen. Der Mann bittet Camille, seine
geschminkten Lippen auf die Postkarte zu pressen, und steckt sie daraufhin in
seine Tasche, um sie aufzuheben. Viel später schreibt er dann diese Zeilen als
Erinnerung an ihre gemeinsame Liebe. Vielleicht so?«
»Ja, wer
weiß?«, meinte Eva.
Sie wirkte
zufrieden, dass er sich bemüht hatte, denn nun setzte sie sich neben ihn auf den
gefliesten Boden. »Und dann?«, fragte sie.
»Das
Datum, das er auswählt, ist der Todestag von Camille Malraux, der 22. April
1915 - der Tag der Giftgasattacke bei Gravenstafel. 1913 ist die Nummer, hinter
der Malraux begraben liegt. Und dann schreibt er die Worte Les supremes adieux,
weil er nun den letzten Abschied von einer Person genommen hat, die er liebte.«
»Dass sie
sich rein physisch geliebt haben, wissen wir ja eigentlich gar nicht«, meinte
Eva. »Sie können ja auch gute Freunde gewesen sein, oder?«
Don
schaute sie verwundert an.
»Aber was
spielt das für eine Rolle?«
»Gar
keine, ich wollte nur ... Fahren Sie fort.«
»Dann
bleiben nur noch zwei Zeilen übrig. L'homme vindicatif und
L'immensite de son desir. Der rachsüchtige Mann und sein unstillbares
Verlangen.«
»Ja?«
»Das mit
dem unstillbaren Verlangen spricht wohl dafür, dass irgendeine Form von
Attraktion bestand. Und rachsüchtig ... rachsüchtig, was die Deutschen
betrifft vielleicht. Obwohl ich glaube, dass es sich eigentlich nur um meshugas, Belanglosigkeiten
handelt. Ein paar Zeilen, die die Erinnerung an ein Gedicht bewahren, das
beiden gefiel.«
»Baudelaire?«
Don
nickte.
»Ja, es
ist von Baudelaire, genau wie sie gesagt hat, das Mädchen im Stadtarchiv. Ich
habe das Gedicht im Computer im Kriegsmuseum gegoogelt, bevor ich den Hinweis
zum Grab von Malraux fand.«
»Und?«
»Ich weiß
nicht. Alle drei Zeilen finden sich im selben Gedicht, in Les Fleurs
du mal, Die Blumen des Bösen. Dafür wurde Baudelaire angeklagt
und verurteilt, und Teile der Gedichtsammlung wurden bis in die 50er Jahre
hinein in Frankreich verboten, weil man sie als extrem pervers einstufte.«
»Die
Zeiten ändern sich«, meinte Eva.
Don
schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung an den Text auf dem Bildschirm
des Kriegsmuseums abzurufen.
»Ich hatte
nicht so viel Zeit, aber ich dachte natürlich, dass es irgendetwas geben
müsste, was die beiden verbindet, Baudelaire und den Mann im Bergwerk.«
»Ja?«
»Doch das,
was ich geschafft habe zu lesen, besagt nur, dass beide eine morbide Faszination
für die Hölle teilten. Der Mann schrieb die Worte Niflheim an die Wand des
Stollens sowie Näströndu, >Der Strand der Toten<. Und Baudelaire huldigt
im Vorwort seiner Gedichtsammlung dem Teufel.«
Er sah
erneut Baudelaires Zeilen mit der Überschrift: »Au Lecteur« vor sich. Er
unternahm einen Versuch in seinem holprigen Französisch:
C'est
le Diable qui tient les fils qui nous remuentl Aux objets repugnants nous
trouvons des appas;
Chaque
jour vers l'Enfer nous descendons d'un pas, Sans horreur, á travers des
tenebres qui puent.
»Es ist
der Teufel ...«, begann er.
»Es ist
der Teufel, der unsere Bewegungen kontrolliert«, flüsterte Eva. »An allem, was
abstößt, finden wir Gefallen. Jeden Tag ... jeden Tag sinken wir tiefer in die
Hölle hinunter. Und wir bewegen uns durch die Schatten und den Gestank, ohne
Angst zu verspüren.«
Er nickte.
»Ungefähr
so.«
Oben an
der Decke flackerte es, und dann erlosch in einem der gläsernen Lampenschirme
das Licht.
»Aus
welchem Gedicht stammen die Verse, die auf der Karte stehen?«, fragte Eva.
»Es ist
ein Zitat aus einer langen Ausführung über Nekrophilie, eine detaillierte
Beschreibung der Sehnsucht eines Mannes, Sex mit einer Frauenleiche zu haben.«
»Und wie
heißt es?«
»Une
Martyre, Die Märtyrerin. Dessin d'un Maitre inconnu, Zeichnung eines
unbekannten Meisters, genau wie das Mädchen sagte. Un cadavre sans tete
epanche, comme un fleuve. Ein Leichnam ohne Kopf, dessen Blut auf den Stoff
hinunterrinnt, der ihn mit dem Durst einer Wiese aufsaugt, und so weiter und so
fort.«
Er
schnappte nach Luft:
»Kann ich
die Postkarte
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