Wallentin, Jan
kirgisischen Nomaden den fünf-, sechstausend Meter hohen
Gebirgspass im Pamir zu Fuß zu erklimmen. Allein das war zu dieser Zeit schon
ein bemerkenswertes Unternehmen. Am 5. Januar 1895 erreichte er schließlich
die Oasenstadt Kaschgar, den Ort am Rande der Taklamakan-Wüste, an dem sich
die Karawanen der Seidenstraße seit Tausenden von Jahren begegnen. Mit seinem
Einmannzelt, seinen Werkzeugen und Waffen verschwand er am 22. Januar mit
einigen Dienern, ein paar Kamelen und Eseln in die Wüste hinein. Dort ahnte er
noch nichts von den gewaltigen Sandstürmen, die die Wüste mit ihren Sandverwehungen
innerhalb weniger Stunden vollkommen ummodeln konnten. Er ignorierte auch die
Warnungen, die er in Kaschgar zu hören bekommen hatte, dass man dort draußen in
der Leere eigentümliche Stimmen vernehmen würde, Stimmen, die einen verhexten
und jeden Wanderer dazu brächten, sich im Labyrinth der Wüste zu verlaufen. In
der ersten und zweiten Nacht verlief alles wie geplant, und als die Gruppe
unter freiem Himmel zeltete, skizzierte Hedin mit seinem Kohlestift die
Geometrie des Geländes, um nicht die Orientierung zu verlieren. Doch in der
dritten Nacht kam ein Sandsturm auf. Hedins späteren Aufzeichnungen zufolge
wütete er ganze siebenundsiebzig Stunden lang. Als sich der schwarze Sand
endlich wieder beruhigt hatte, war die gesamte Landschaft ums Lager herum
verändert. Der Sturm hatte nicht nur die hundert Meter hohen Sanddünen verweht
- sie waren vom Wind vollständig abgetragen, und dort, wo sich zuvor Sand
befunden hatte, reckten jetzt versteinerte Bäume ihre Aste gen Himmel. Als er
ein Stück weit zwischen den Stämmen hin- und hergewandert war, entdeckte Hedin
einige weiße Pfähle, die aus dem Boden ragten, und als er näher kam, sah er,
dass er vor den Resten eines lückenhaften Zaunes stand. Gemeinsam mit seinen
Dienern folgte er dem Verlauf des Zaunes in westlicher Richtung, wo sie nach
einem Kilometer eine Ansammlung leerer Gebäude erreichten. Es waren die
Überreste einer Stadt, die die heftigen Winde von jahrhundertealten, ja wer
weiß, vielleicht sogar jahrtausendealten Sandschichten befreit hatten. Hedin
schrieb später, dass seine Diener gefordert hätten, den Ort, den sie auch Ort
der Elfenbeinhäuser nannten, wieder zu verlassen, doch er tanzte stattdessen
vor Freude herum und war überzeugt davon, ein neues Pompeji entdeckt zu haben.
In seinen ersten Aufzeichnungen notierte Hedin, dass die Häuser aus Holz gebaut
zu sein schienen, oder besser gesagt aus Pappeln. Pappeln mitten in einem Meer
aus Sand! Und obwohl sich die weißen Fassaden anfänglich fest anfühlten, fielen
sie wie gesprungenes Glas in sich zusammen, als er mit seiner Reitpeitsche
gegen das Material klopfte. Hedin fertigte eine Reihe von Zeichnungen an, die
zeigen, dass verschiedene Wände mit Fresken bedeckt waren: nackte betende
Frauen mit einem, wie Hedin es deutete, indischen Kastenzeichen auf der Stirn.
Männer mit eigentümlichen Waffen, und an ihrer Seite: Buddhafiguren mit
Lotusblüten in den Händen. Hedin zog die Schlussfolgerung, dass er sich in
einem ehemaligen Tempel befand. Heute kennen wir den Ort unter dem Namen Dandan
Oilik, die versunkene Stadt. Doch weniger bekannt ist«, fuhr Eberlein fort,
»was Hedin an diesem ersten Tag unterhalb der
versunkenen Stadt entdeckte. In einem Brief, den wir besitzen, beschreibt
Hedin ziemlich dramatisch, wie er in einem der imposantesten Gebäude völlig
unvermittelt im Fußboden einbrach und kopfüber auf ein Steinmosaik stürzte, das
sich in einer, wie es ihm schien, sehr viel älteren Grabkammer befand. Es
gelang ihm nicht, sie genauer zu datieren. Um den grünlichschwarzen Mittelpunkt
des Mosaiks herum lagen zwölf in Stoff gehüllte Leichen, Mumien, die die
Wüstenluft über einen langen Zeitraum bewahrt und ausgetrocknet hatte. Als er
näher herankam, sah er, dass auf der Brust von einer der Mumien ein perlweißes
Kreuz lag, das wie eine Hieroglyphe geformt war, die Anch genannt wird. Auf
das Kreuz, beziehungsweise auf den Querschaft hatte jemand vor langer Zeit
einen weiteren Gegenstand gelegt: einen Stern mit fünf Strahlen, die von einer
Nabe ausgingen. Er besaß die Form, die die Ägypter Seba nannten und als ein
Symbol für den Gott Osiris ansahen, den Herrscher des Jenseits, den Gott, der
die Schlüssel zur Unterwelt besaß.«
Eberlein
verstummte und betrachtete Don in Erwartung einer Antwort lange.
»Vervolt
dos gegloybt?«, merkte Don schließlich an. Eberlein
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